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Interview mit Prof. Dr. Rodolfo Schöneburg

Der lange Weg zur Vision Zero

Bild: Cavan via Getty Images

Vision Zero - keine Verkehrstote mehr auf unseren Straßen. Das ist das große Ziel der Experten aus Wissenschaft und Industrie, die bei der „Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit“ am 7. November in Berlin über den Stand der Verkehrssicherheit diskutierten. Welche Wege zum Ziel führen und warum es neben technischen Neuerungen auch gesetzliche Vorgaben braucht, weiß Prof. Dr. Rodolfo Schöneburg.

Entwicklung der Verkehrstotenzahlen in Deutschland

21.300 Menschen kamen in Deutschland 1970 noch im Straßenverkehr ums Leben. 50 Jahre später waren es laut des Statistischen Bundesamts noch 2.719 Personen (2020). Aber diese Zahl gilt es noch weiter zu senken. Darum betrachtet das VDI-Expertengremium der „Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit“ das Unfallgeschehen ganzheitlich und untersucht das Zusammenwirken der unterschiedlichen technischen Möglichkeiten und Ansätze. Aus diesen Erkenntnissen leiten sie Schwerpunkte ab und setzen Prioritäten, die helfen, einzelne Maßnahmen zu optimieren und neue Ideen zu generieren. Dieses Wissen bringen sie seit 2021 auch aktiv in den Pakt für Verkehrssicherheit‘ des BMDV ein.

Worum geht es in der „Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit“

Prof. Dr. Rodolfo Schöneburg: In unserem Gremium beschäftigen sich Experten aus Automobilindustrie, Versicherungen und Hochschulen intensiv mit dem Thema Fahrzeugsicherheit. Wir haben leider immer noch über 2.500 Verkehrstote jedes Jahr, das wollen wir ändern. Darum arbeitet der VDI auch aktiv am 'Pakt für Verkehrssicherheit‘ des BMDV mit, der das Verkehrssicherheitsprogramm 2030 des Bundes begleitet. Die Ergebnisse unserer Arbeit diskutieren wir regelmäßig im Rahmen von Expertentreffen der „Berliner Erklärung“ öffentlich mit der Fach-Community. Wir definieren unter anderem die Top Ten der Maßnahmen, die wir als nächstes aktiv angehen müssen, um uns der Vision Zero weiter zu nähern und nehmen uns alle zwei Jahre ein neues Schwerpunktthema vor.

Erneuerung der Fahrzeugflotte

Welche Maßnahmen können konkret helfen?

Schöneburg: Wir als Verkehrssicherheitsexperten sehen zahlreiche wichtige Maßnahmen. Eine ist die Erneuerung der Fahrzeugflotte. Die neuen Fahrzeuge sind von der Struktur her sicherer, verfügen über bessere Rückhaltesysteme und nutzen verstärkt Fahrassistenzsysteme, die helfen, Unfälle zu vermeiden. Auch die gestiegenen Euro NCAP-Anforderungen haben in den letzten 10 Jahren für steigende Sicherheit gesorgt.

Zum Teil ergibt sich diese Erneuerung automatisch dadurch, dass neue Fahrzeuge zugelassen und alte verschrottet werden. Allein in Deutschland wird die Zahl der Verkehrstoten damit um jährlich 300 - 600 bis 2030 reduziert. Man könnte die Erneuerung der Fahrzeugflotte zudem durch verschiedene Anreize von Seiten der Regierung beschleunigen. Auch ist damit zu rechnen, dass viele Bestandsfahrzeuge im Rahmen der Umstellung auf Elektromobilität durch moderne Fahrzeuge ersetzt werden.

Gurttragepflicht

Schöneburg: Eine weitere wichtige Maßnahme ist, die Anschnallquote zu erhöhen. Zwar gibt es in Deutschland seit 1976 eine Gurttragepflicht, aber nach wie vor ist das im Unfallgeschehen ein großes Problem. Denn während wir eine sehr gute Anschnallquote haben, wir sprechen hier von 97 - 98%, machen aber gerade diese restlichen 2 - 3%, die sich nicht anschnallen, über 25% der Getöteten Fahrzeuginsassen im Unfallgeschehen aus. Denn bei einem Unfall, bei dem man nicht angeschnallt ist, ist die Gefahr von schwersten und tödlichen Verletzungen sehr hoch. Darum spielt hier jedes Prozent eine wichtige Rolle.

Die Zahl der Verkehrstoten ist zwar bei den Fahrzeuginsassen um 40 % gesunken. Bei den verletzlichen Verkehrsteilnehmern wie Fußgängern und Radfahrern jedoch ist die Zahl zuletzt wieder angestiegen. Was kann hier helfen?

Schöneburg: Auch für diese Gruppe gewinnen Assistenzsysteme an Relevanz. Denn diese Systeme helfen, gerade die Sicherheit verletzlicher Verkehrsteilnehmer zu erhöhen. Oder einfach gesagt: Sie machen den Straßenverkehr für Fußgänger und Radfahrer sicherer. Das können automatische Bremssysteme im Fahrzeug sein, die vor Gefahren automatisch bremsen, ohne dass der Fahrer aktiv eingreifen muss. Aber auch Systeme, die helfen die Spur zu halten oder möglicherweise ausweichen helfen, bevor es zum Unfall kommt.

Die Zahl der Radfahrer hat gerade in den Städten zugenommen. Und das ist auch richtig auf dem Weg für die Mobilität der Zukunft. Andererseits wird das zum Problem. Denn diese Verkehrsteilnehmer sind völlig ungeschützt, solange die Infrastruktur noch nicht durch klare Trennung der Verkehrswege für die verschiedenen Verkehrsteilnehmer optimal ausgelegt ist. Darum ist eine weitere wichtige Maßnahme: Die Infrastruktur besonders in den Städten muss mehr für Radfahrer und Fußgänger tun. 


Risikofaktor Ablenkung

Welche Herausforderungen gibt es noch?

Schöneburg: Ablenkung ist bei allen Verkehrsteilnehmern gleichermaßen ein Problem. Vom Autofahrer über Fußgänger oder Radfahrer, die vom Handy oder anderen Dingen abgelenkt sind. Wir brauchen Maßnahmen, um diese Ablenkung zu reduzieren. Denn viele gefährliche Situationen werden dadurch erst erzeugt. 

Ein Punkt, den man sicherlich betrachten muss, ist die Ablenkung durch das HMI, also das Human Machine Interface. In diesem Punkt habe ich ein bisschen die Hoffnung, über den ‚Pakt für Verkehrssicherheit‘ auch den Gesetzgeber und die Kommunen in die Pflicht zu nehmen. Denn einige Schritte sind durch gezielte Vorgaben, zum Beispiel hinsichtlich Bedienzeiten, schon im Fahrzeug anzugehen, das können Hersteller oder Zulieferanten aber nicht allein anpacken. Einige Länder schreiben beispielsweise vor, wie lange die Bedienung von Systemen im Fahrzeug maximal dauern darf. 

Gleichzeitig braucht es auch Lösungen für Fußgänger. Wenn Personen mit dem Kopf nach unten auf ihr Handy gucken und so über die Straße laufen, was leider passiert, könnte beispielsweise die Fahrbahn an gefährlichen Positionen farbig markiert werden oder leuchtende Markierungen auf dem Boden vor Straßenbahn-Schienen warnen.

Jeder macht Fehler

Schöneburg:  Die Grundidee der Vision Zero war schon vor 20 Jahren, davon auszugehen, dass jeder Verkehrsteilnehmer Fehler macht. Wir müssen also Fahrzeuge und die Verkehrsumgebung so gestalten, dass sie fehlerverzeihend, fehlertolerant sind. Darum suchen wir nach verschiedenen Wegen, um diese Fehler auszugleichen, so dass es nicht zu schwersten und tödlichen Unfällen kommt.

Denn auch wenn die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland stark zurückgegangen ist, müssen wir uns nun zunehmend mit den Schwer- und Schwerstverletzten beschäftigen. Dazu müssen diese aber zuverlässig in den Statistiken klassifiziert und erfasst werden, ein Thema, das wir in der Expertenrunde unserer „Berliner Erklärung“ seit 2021 intensiv diskutieren. Da müssen wir den nächsten Hebel ansetzen und alles tun, auch diese Zahl nachhaltig zu senken.

Gibt es auch neue Entwicklungen, die eine Rolle spielen?

Schöneburg: Während die Zahl der Todesopfer in PKW weiter abgenommen hat, stagniert sie bei den verletzlichen Verkehrsteilnehmern, also Fußgängern und Radfahrern fast völlig. Darum liegt ein Fokus unseres Expertengremiums auf dieser Gruppe und damit auch auf Überlegungen, wie Mobilität sich verändern muss, um sicherer zu werden. Beispielsweise durch die Einführung einer neuen Fahrzeugklasse M0, einer neuen und sicheren Fahrzeugklasse für die innerstädtischer Mobilität. 

Diese Kleinstfahrzeuge für den Stadtverkehr liegen zwischen dem normalen PKW mit einer M1-Zulassung, der sehr stark reglementiert ist, und Leichtfahrzeugen nach L7e, die kaum Sicherheitsanforderungen erfüllen müssen. In der „Berliner Erklärung“ haben wir untersucht, welche Zulassungsanforderungen für diese kleine Fahrzeugklasse absolut wichtig sind. Die Ergebnisse werden wir in den ‚Pakt für Verkehrssicherheit‘ einbringen. Denn vielleicht können kleine Fahrzeuge im urbanen Raum helfen, die wichtige individuelle Mobilität weiterzuführen.

Das Interview führte Gudrun Huneke.

Fachlicher Ansprechpartner: 
Dipl.-Ing. Christof Kerkhoff
VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik
E-Mail: kerkhoff@vdi.de

 

Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg VDI ist RSC Road Safety Counselor und Vorsitzender des VDI-FVT Fachbeirats Kraftfahrzeugtechnik und Kurator des Fraunhofer EMI in Freiburg.

„Von 1999 bis 2021 war Prof. Schöneburg bei der Mercedes-Benz AG für den Bereich ‚Fahrzeugsicherheit, Betriebsfestigkeit und Korrosionsschutz‘ aller PKW zuständig. Im Jahr 2002 hat Mercedes unter seiner Leitung die erste Generation von PRE-SAFE® eingeführt, ein System, das weltweit die ganzheitliche Betrachtung der Fahrzeugsicherheit geprägt hat. Er ist zudem Gründer und Sprecher der VDI-Sicherheitsinitiative ‚Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit‘, die sich auch mit Ideen zur Sicherheit von Kleinstfahrzeugen im urbanen Umfeld und einer neuen Fahrzeugklasse M0 befasst.“

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