„Circa 85 Prozent der Unfälle resultieren aus Fahrfehlern“
Zwar hat sich die Zahl der Verkehrstoten in den letzten 20 Jahren laut Statistischem Bundesamt pro Jahr um durchschnittlich 400 verringert. Dennoch hat der Straßenverkehr in Deutschland auch 2019 noch 3.000 Todesopfer gefordert – Verkehrssicherheit hat also weiterhin hohe Priorität. Daher hat sich die Europäische Union das Ziel gesetzt, vom Anfang bis Ende eines Jahrzehnts die Zahl der Verkehrstoten europaweit zu halbieren. Gemäß dieser „Vision Zero“ kommt kein Verkehrsteilnehmer mehr zu Tode. Doch wie lässt sich solch ein ambitioniertes Ziel erreichen? Professor Rodolfo Schöneburg, Vorsitzender des Fachbereichs „Sicherheit, Methoden und Prozesse“ der VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik, gibt Antworten.
Seit 1990 ist die Entwicklung bei der Zahl der Verkehrstoten rückläufig. Welchen Anteil haben die unterschiedlichen Verkehrsmittel? Und wie haben sich deren Anteile in den letzten 30 Jahren verändert?
Rodolfo Schöneburg: Die Zahlen haben sich bereits seit den 1970er-Jahren ganz deutlich reduziert: Allein in Westdeutschland gab es Anfang der 1970er-Jahre noch über 20.000 Verkehrstote pro Jahr. Ende 2019 waren es nur noch 3.000 in ganz Deutschland. Wir verzeichnen in den letzten 20 bis 30 Jahren eine kontinuierliche Reduzierung, die allerdings in den letzten zehn Jahren deutlich abflacht. Es wird immer schwieriger, die Zahlen weiter zu verringern. Bezogen auf die einzelnen Verkehrsmittel zeigt sich, dass die Insassen von geschlossenen Kraftfahrzeugen heutzutage einen Anteil von etwa 45 Prozent an der Gesamtzahl der Verkehrstoten haben. Bei Motorrädern und Fahrrädern aber auch bei Fußgängern ist die Zahl der Verkehrstoten im Vergleichszeitraum, relativ gesehen, jedoch deutlich gestiegen.
Im Jahr 2019 sind deutschlandweit 3.000 Menschen im Straßenverkehr zu Tode gekommen. Welche Verkehrsteilnehmer*innen waren am häufigsten betroffen?
Schöneburg: Für 2019 erwarten wir die genaue Auswertung erst im Juli dieses Jahres. Wir können nur auf das Jahr 2018 schauen mit 3.275 Verkehrstoten insgesamt. Weniger als die Hälfte davon sind Fahrzeuginsassen, 20 Prozent machen die Motorradfahrer*innen aus, und je etwa 450 getötete Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen sind zu beklagen. Der Anteil an Verkehrstoten bei Lkw-Insassen liegt bei vier bis fünf Prozent und ist damit relativ gering. Hoch dagegen ist mit 18 Prozent der Anteil der durch Lkw getöteten Verkehrsteilnehmer*innen. Wichtig ist daher, unbedingt auch Lastkraftwagen mit in die Betrachtung einzubeziehen, wenn es um Maßnahmen zur Reduzierung der Verkehrstoten geht – ein zentrales Thema der „Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit“.
Automatisiertes Fahren und Unfallforschung
Wie kann das automatisierte Fahren dazu beitragen, die Zahl der Verkehrstoten und Schwerverletzten zu reduzieren? Gibt es hierzu Prognosen? Liegen schon Ergebnisse aus Pilotprojekten vor?
Schöneburg: Das automatisierte Fahren wird die Unfälle reduzieren, die durch Unachtsamkeit und Müdigkeit entstehen. Denn circa 85 Prozent der Unfälle resultieren aus Fahrfehlern. Andererseits entschärft der Mensch viele Situationen durch seine Erfahrung. Die Systeme und die Sensorik der automatisierten Fahrzeuge müssen in vielen Situation erst mal so gut sein wie der Mensch. Ich persönlich bin überzeugt, dass sich anbahnende Unfälle durch Automatisierung deutlich reduziert werden können. Plötzlich auftretende Unfälle hingegen, bergen große Herausforderungen für automatisierte Fahrzeuge. Eine Schwierigkeit stellt auch zukünftig der Mischverkehrs dar, also die Interaktion zwischen Fahrzeugen, die vom Menschen geführt werden und denen, die ohne oder nur mit wenig menschlichem Eingreifen fahren. Da das Durchschnittsalter von deutschen Pkw bei zehn Jahren liegt, werden sich automatisierte und herkömmliche Fahrzeuge die Straßen noch lange teilen. Dadurch wird es auch neue Unfallkonstellationen geben, die noch gar nicht abzusehen sind. Damit beschäftigen sich zahlreiche, auch internationale Projekte.
Welche Bedeutung kommt der Erforschung der Unfallentstehung zu?
Schöneburg: Bei Mercedes Benz betreiben wir seit gut 50 Jahren Unfallforschung. In der Vergangenheit stand der Unfall selbst im Vordergrund: Wie kam es dazu? Wie haben die Systeme im Fahrzeug funktioniert? Was hat der Mensch als Verkehrsteilnehmer dazu beigetragen? Dazu wurden Statistiken zu den verschiedenen Arten von Unfällen erstellt. Aktuell und zukünftig liegt der Fokus auf der Unfallursachenforschung, das heißt, warum kam es zum Unfall, wie wirken Assistenzsysteme auf das Unfallgeschehen und wie lassen sich dadurch Unfälle vermeiden.
Null Verkehrstote im Blick
Wann könnte aus Ihrer Sicht in Deutschland die „Vision Zero“ Realität sein, also eine Halbierung der Zahl der Verkehrstoten jeweils zum Ende eines Jahrzehnts?
Schöneburg: Die „Vision Zero“ ist eine Vision, die uns die Richtung vorgibt. Ich persönlich bin überzeugt, dass das Ziel von null Verkehrstoten niemals erreicht wird. Dennoch ist natürlich das Ziel, die Zahl kontinuierlich weiter zu senken und auf einen so niedrigen Stand wie nur möglich zu bringen. Auf dem Weg dahin darf aber nicht nur das Fahrzeug selbst betrachtet werden, sondern auch die Infrastruktur, das Verkehrsumfeld und das Verhalten der einzelnen Verkehrsteilnehmer.
Das Verkehrssicherheitsprogramm des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur aus 2011 läuft in diesem Jahr aus. Wie ist Ihr Fazit?
Schöneburg: Mein Fazit ist positiv, auch wenn in Deutschland die Zahl der Verkehrstoten seit 2010 nicht deutlich reduziert wurde. Weltweit sterben jährlich 1,35 Millionen Menschen im Straßenverkehr. Mit aktuell etwas mehr als 3.000 zählt Deutschland zu den Ländern mit den wenigsten Verkehrstoten, wenn man deren Zahl in Relation zur Anzahl motorisierter Fahrzeuge sieht. Das Ziel des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur aus 2011, die Anzahl der Verkehrstoten bis zum Ende des Jahres 2020 auf 2.200 zu reduzieren, wird jedoch nicht zu erreichen sein.
Neutrale Experten für mehr Verkehrssicherheit
Wie wird sich der VDI in das Anschlussprogramm für den Zeitraum 2021 bis 2030 einbringen – inhaltlich und personell?
Schöneburg: Im Rahmen der Tagung Fahrzeugsicherheit 2011 wurde die „Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit“ vom VDI ins Leben gerufen, als Gründungsmitglied und Ideengeber war ich selbst beteiligt. Ganz bewusst hat der VDI damals Experten aus verschiedenen Bereichen zusammengebracht: Fahrzeugindustrie, Zulieferanten und Hochschulen. Im Laufe der Zeit kamen Unfallforscher dazu, und es gibt inzwischen auch eine direkte Kooperation mit dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat. Wir sind intensiv vernetzt und führen jährlich Veranstaltungen durch, um die Entwicklung in Deutschland im Detail zu verfolgen und Beiträge zur Verbesserung der Situation leisten zu können. In diesem Sinne wird sich der VDI auch in das Verkehrssicherheitsprogramm ab 2021 einbringen.
Welche Kooperationen strebt der VDI an, um die Sicherheit im Straßenverkehr im Allgemeinen und beim automatisierten Fahren im Speziellen zu erhöhen?
Schöneburg: Der große Vorteil des VDI ist seine Neutralität und damit auch der Grund, dass er als Initiator und Schirmherr für die „Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit“ gewählt wurde. Ein Ausbau der Kooperation mit dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat und die stärkere Einbeziehung der Landesverkehrswart der einzelnen Bundesländer wird dazu beitragen, die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Wir haben bei den Expertengesprächen im Rahmen der Berliner Erklärung schnell erkannt, dass die Infrastruktur und der Mensch zentrale Punkte sind. Gerade der Faktor Mensch wird über den Deutschen Verkehrssicherheitsrat und die Landesverkehrswacht sehr stark adressiert. Alle Experten sind sich einig, dass das Thema Ablenkung während der Fahrt, vor allem durch Telefonieren, einen entscheidenden Einfluss auf die Sicherheit im Straßenverkehr hat.
Wann und zu welchem Thema wird die nächste VDI-Tagung „Fahrzeugsicherheit“ stattfinden?
Schöneburg: Sie findet im zweijährigen Rhythmus erst wieder Ende 2021 statt. Als Fokusthema ist das „Verkehrssicherheitsprogramm Deutschland“ im Gespräch. Die aktuellen Initiativen könnten im Rahmen der Tagung reflektiert werden. Details zu Themen und Inhalten der Tagung werden in den kommenden Monaten konkretisiert.
Plant die VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik (FVT) neben weiteren Publikationen und Fachveranstaltungen auch Richtlinien zum Themenkomplex „Sicherheit in der Mobilität“?
Schöneburg: Im Fachbereich „Sicherheit, Methoden und Prozesse“ der VDI-FVT, den ich leite, haben wir aktuell einige Richtlinienprojekte initiiert, unter anderem zum Thema Kfz-Sachverständigenwesen. Das erste Blatt zur VDI-MT 5900 ist inzwischen veröffentlicht und beschreibt die Grundlagen der Qualifikation, die ein Sachverständiger für Kraftfahrwesen und Straßenverkehr der Zukunft haben sollte – wichtig gerade auch im Hinblick auf das automatisierte Fahren und die neuen Techniken und Sensordaten, die es im Zusammenhang mit einem Unfallgeschehen zukünftig zu analysieren gilt. Ein weiteres Richtlinienprojekt entsteht im Fachbereich Luft- und Raumfahrttechnik der FVT. Hier geht es um die Sicherheit von Kleinstflugzeugen bis maximal zwei Sitzen. Vorgaben für Sicherheitssysteme gibt es hier noch nicht. Wir versuchen daher, mit Techniken aus dem Fahrzeugbereich einen Mehrwert für die Luftfahrt zu generieren.
Interview: Alice Quack
Fachlicher Ansprechpartner:
Dipl.-Ing. Christof Kerkhoff
VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik
E-Mail-Adresse: kerkhoff@vdi.de