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Gastbeitrag

Welche Beiträge bieten Geistes- und Sozialwissenschaften für die Ingenieurkunst?

Bild: everything possible/Shutterstock.com

Unsere Welt ist geprägt durch Entwicklungen der Globalisierung und Digitalisierung, die aufgrund beunruhigender Trends wie der Klimaerwärmung und Pandemien sowie disruptiver technologischer Innovationen zu einer immensen Steigerung der Komplexität im Alltag führen. Neben-, Rück- und Fernwirkungen des Handelns sind weder für den Menschen als Individuum noch als Teil organisatorisch-gesellschaftlicher Kontexte zu erfassen und zu überblicken. Immer häufiger stehen wir an der Schwelle zwischen Turbulenz, einem Zustand, der es uns noch erlaubt steuernd einzugreifen, und dem Chaos, einer Situation, in der wir nur noch reagieren können.

Interdisziplinäre Teams liegen im Trend

Themen, die notwendig erscheinen, um dem Chaos zu entkommen und in Turbulenz zu bestehen, sind z.B. Künstliche Intelligenz, Big Data, Internet of Things, digitaler Zwilling. Gleiches gilt aber auch für Themen, die sich – auf den ersten Blick – den Geistes- und Sozialwissenschaften zuordnen lassen, wie Risikomanagement, Social Capital- oder Demografiefragen. Dass sich diese Themen bei genauerem Hinsehen schon längst nicht mehr trennscharf einer Disziplin zuordnen lassen, bestätigt die zunehmende Popularität von Interdisziplinarität in Teams und Arbeitsgruppen. Welchen Gewinn es für die Ingenieurwissenschaften birgt, Geistes- und Sozialwissenschaften nicht nur als Disziplin zu verstehen, die man bei Bedarf hinzuzieht, sondern sie von Anfang an mit an den Tisch zu setzen, wollen wir in diesem Beitrag aufzeigen. Dazu zeigen wir einige Schnittstellen und Perspektiven und beleuchten den gemeinsamen Forschungsprozess. 

Wenn technische Produkte und Netzwerke nicht nur intelligenter, sondern selbstlernend, selbstorganisiert und kreativ werden, dann müssen wir gemeinsam sicherstellen, dass wir eine wertorientierte Steuerung fokussieren und im Einklang über Sinn und Umsetzungsformate entscheiden. Dies geht jedoch nur mit Menschen, die sich in ihren kommunikativen, kulturellen und mentalen Modellen überschneiden – also verstehen. Fragestellungen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften können in einem ingenieurwissenschaftlichen Entwicklungsprozess Sinnhaftigkeit und Nutzen sowie Gefahren und Potenziale fokussieren und beschreiben: Stellschrauben zu Akzeptanz in der Gesellschaft. Außerdem reicht es nicht aus, die technische Machbarkeit sicher zu stellen. Wichtig ist auch zu betrachten, was danach mit dem Menschen und seiner Umwelt während und nach der Nutzung passiert.

„Socializing“ mit Robotern und Maschinen

Um diese Verbindung der Disziplinen darzustellen, zeigen wir im Folgenden konkrete zentrale Themenfelder – Mensch-Maschine-Kollaboration, alternative Arbeitsweisen und Künstliche Intelligenz (KI) – auf, die Herausforderungen in den Ingenieurwissenschaften darstellen, die aber auch notwendige Fragestellungen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften beinhalten. 

Im Themenfeld Mensch-Maschine-Kollaboration adressieren wir die Frage nach dem „Socializing“ mit Robotern und Maschinen. Dabei bearbeitet ein interdisziplinäres Team Forschungsfragen, welchen Robotertyp Menschen für die Zusammenarbeit präferieren, welchem Robotertyp (humanoider Roboter oder Industrieroboter) Menschen im Arbeitsprozess vertrauen und wie sich die Kooperation auf die Arbeitsleistung auswirkt. Darüber hinaus werden Fragestellungen nach den Bedingungen und Gestaltungselementen von hybrider Teamarbeit behandelt. So verzahnen sich Ingenieurwissenschaften mit Sozialwissenschaften, um zum einen die technische Entwicklung und Innovation voranzubringen und zum anderen Faktoren für die Akzeptanz und Nützlichkeit zu identifizieren und integrieren. Darüber entsteht ein möglichst ganzheitliches Konzept, das Mensch und Technik gleichermaßen in den Fokus stellt.
 

Zielführende Technologien einsetzen

Doch auch beim „sozialwissenschaftlichen“ Thema menschlicher Teamarbeit steigt der Bedarf nach alternativen Arbeitsweisen und neuen, digitalisierten Arten der Zusammenarbeit. Auch in diesem Kontext fragt die Sozialwissenschaft nach der Machbarkeit und Sinnhaftigkeit neuer Technologien, etwa welche Arbeitsweisen und unterstützenden Tools (wie Materialien, Software etc.) sich für welche Aufgaben und Teamstrukturen eignen. So erforschen Sozialwissenschaftler*innen, inwiefern digitale Methoden die Interaktion und Kommunikation in Teams verändern, um Hilfestellung zur Zusammensetzung, Prozessunterstützung und Problemlösung zu geben. Bezogen auf die letzte Frage, lässt sich feststellen, dass beispielsweise die Methode und die Technik einen Einfluss auf Faktoren wie den Detailgrad der Lösung, Teamentwicklung und Kreativität haben. Hier je nach Bedarf sinnvoll und zielführend Technologien einzusetzen, hat große Auswirkungen auf Effektivität und Effizienz der Beteiligten.

Verantwortungsvoller Umgang ist gefragt

Das allgegenwärtige Themenfeld Künstliche Intelligenz (KI) zieht mehr und mehr in alltägliche Arbeits- und Lebensweisen ein. Bei immer komplexeren künstlich intelligenten Systemen, die wir inzwischen entwickeln, geben wir zunehmend die Kontrolle darüber auf, was in diesen eigentlich passiert. Jede KI baut auf bestehenden Daten, Systemen und Mustern auf. Selbst Entwickler*innen können nicht mehr immer nachvollziehen, weshalb ein System eine Entscheidung trifft oder sie ablehnt. Dies birgt zunehmend die Gefahr, stereotype Muster zu reproduzieren.  Die Beispiele rassistischer oder sexistischer KI sind zahlreich: Recruiting-Algorithmen, die lernen, was „Erfolgsfaktoren“ für Vorstände sind und in der Folge alle Frauen aussortieren oder Hautkrebs-Screenings, die auf dunklerer Haut schlechter funktionieren und falsche Schlüsse ziehen. Um diese zu erkennen, müssen wir aber nachvollziehen und gegebenenfalls nachsteuern können, wie die KI Entscheidungen trifft. Daher ist es wichtig, zu erforschen, wie ein verantwortungsvoller Umgang sowohl in der Entwicklung als auch Nutzung von KI aussieht, was Transparenz für Nutzende bedeutet und wie sie sich umsetzen lässt. Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, wer letztlich die Verantwortung trägt, sobald eine Entscheidung von einer KI getroffen wurde. Wer entscheidet über „richtig & falsch“, „moralisch verwerflich & okay“, „fair & unfair“? Unter welchen Umständen „vertrauen“ Menschen in KI und Algorithmen? Um diesen Antworten näher zu kommen, gibt es in unserem Institut (Informationsmanagement im Maschinenbau, RWTH Aachen) beispielsweise Forschungsansätze, welche Entscheidungen in welchen Situationen getroffen werden und wie mit Unsicherheit bei KI-getroffenen Entscheidungen umgegangen wird.

Die Relevanz beider Perspektiven bei der Mensch-Maschine-Kollaboration, der Einfluss technischer Neuerungen in menschliche Kollaborationen, ebenso wie die sorgfältig zu prüfenden Segnungen von Künstlicher Intelligenz: Sie alle zeigen, welchen Gewinn Ingenieur- wie Geistes- und Sozialwissenschaften davontragen, wenn sie sich gegenseitig am Tisch zuhören und „Einmischung“ zu lassen. Bei dem Versuch ein möglichst ganzheitliches Bild von Problemen und deren Lösung zu zeichnen, reicht für die komplexen Probleme und Herausforderungen unserer heutigen Welt die „technische“ Brille alleine nicht aus, sondern wir brauchen auch die „menschliche“ und „organisationale“ Brille. Die Komplexität der aufgezeigten Themen können wir nur kontrollieren und uns vom Chaos in kontrollierbare Turbulenzen bewegen, wenn wir alle „Brillen“ zulassen und so gemeinsam die Probleme unserer Zeit lösen und Entwicklungen erfolgreich und effizient initiieren.

Autorin:
Prof. Dr. phil. Ingrid Isenhardt
IMA – RWTH Aachen University
Lehrstuhl für Informationsmanagement im Maschinenbau IMA
​​​​​​​Mitglied im VDI-Fachausschuss Ingenieurausbildung

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