Direkt zum Inhalt
Ingenieurausbildung

Bereit sein, Verantwortung zu übernehmen

Technologien entwickeln sich rasant, und die Gesellschaft verlangt neue Ansätze mit ökologisch nachhaltigen Lösungen. Daraus wiederum entstehen neue Geschäftsmodelle. Das Gesamtpaket – also nicht allein die technischen Herausforderungen – müssen Ingenieur*innen jetzt und in Zukunft stemmen können. Darauf hat sich die akademische Ausbildung einzurichten.

VDI-Direktor Ralph Appel bringt es auf den Punkt: "Wir dürfen uns nicht auf der Vergangenheit ausruhen. Inhalte und Tätigkeitsprofile verändern sich über alle Branchen hinweg." Die breite Basis klassischer Ingenieurfächer müsse mit Marketing- und Finanzkompetenzen sowie mit gesellschaftlicher Akzeptanz korrespondieren. Sich etwa auf die Entwicklung von Autos zu beschränken, so Appel, führe in die Sackgasse. Digitale Geschäftsmodelle basierten auf integrierter Mobilität, in der "die Freude am Fahren durch den Spaß am Transport" ersetzt werde.

International genießt der deutsche Ingenieurabschluss auch nach dem Umstieg vom Diplom auf Bachelor und Master einen exzellenten Ruf. Um das rein Fachliche macht sich Klaus Kreulich daher keine Sorgen. Der Vizepräsident der Hochschule München fordert von angehenden Ingenieuren die ausgeprägte Bereitschaft, Verantwortung für Innovationen zu übernehmen - die im Übrigen nicht allein aus ihrer Schaffenskraft entstünden. "Digitalisierung bedeutet, das Neue in Kooperation mit anderen Disziplinen zu kreieren, etwa mit Psychologen, Juristen und Designern. Eine intelligente Maschine wird aus der Gesellschaft heraus gedacht, nicht nur aus der Technik."

Bestnoten noch kein Garant für Praxistauglichkeit

Den Ball nimmt Saša Peter Jacob, Referent Ingenieurausbildung beim VDI, gerne auf. Eine Ingenieurwissenschaft mit besten Noten zu absolvieren, sei noch lange kein Beleg für dauerhafte Praxistauglichkeit. Denn die Anforderungen am Arbeitsplatz gingen weit über die fachlichen Qualifikationen hinaus. "Beispielsweise sind erfolgreiche Projektabschlüsse mit technischen Best-practice-Lösungen im Rahmen klassischer Hierarchie- bzw. Organisationsstrukturen immer schwieriger zu erreichen. Das liegt an der zunehmenden Komplexität und Veränderbarkeit von Anforderungen innerhalb von Projekten. Mit dem Kunden einmal sprechen, verstehen und dann abzutauchen, um dann ein fertiges und akzeptiertes Produkt zu präsentieren, ist kaum noch möglich." Vielmehr seien ständiger Austausch, Änderung in den Rahmenbedingungen und die Präsentation mehrerer Lösungen zur Normalität geworden.

Weltumspannende Märke täten ihr Übriges, um Projektteams noch diverser und bunter zu machen. Führung von ganz oben, ohne die intensive Einbeziehung von Experten aus allen Ebenen, werde ersetzt durch agile Methoden. Jacob: "Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse führen dazu, dass sowohl an den Hochschulen als auch in den Lehrinhalten neue Kompetenzen gefördert werden sollten." Die schiere Informationsüberflutung  erfordert die Fähigkeit, Wesentliches von Belanglosem zu unterscheiden. Das kann nicht der Einzelkämpfer allein leisten. "Denn inter- und transdisziplinäres Wissen ist notwendig, um ein erfolgreiches Produkt herzustellen." Beispiel hierfür sei die Corona-Pandemie. "Um Gesichtsmasken herzustellen und zu vertreiben, braucht es Wissen aus vielen verschiedenen Disziplinen. Maschinenbauer, Werkstofftechniker, Juristen, Biologen, Ärzte, Designer, Soziologen, Wirtschaftsingenieure und andere Fachleute sind dafür notwendig." Daraus folgt für Jacob, dass im Studium auch Kollaborations- bzw. Querschnittskompetenzen, ethische Gesichtspunkte und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse gelehrt und berücksichtigt werden sollten. Der VDI-Experte für Ingenieurausbildung glaubt, dass "eventuell auch individualisierte Lehrmethoden eine Möglichkeit sind, um angehende Studierende fit für die Arbeitswelt zu machen".

Dieter Spath, Präsident von Acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, weiß, dass mit neuen beruflichen Anforderungen auch andere als die klassischen Lernmethoden einhergehen müssen. Er fordert eine didaktische Neupositionierung der Hochschullehre. Der Maschinenbauingenieur und Professor für Arbeitslehre stellt bei Studierenden abnehmendes Interesse an Präsenzvorlesungen fest. Es sei notwendig, ihnen neue Formate anzubieten, die selbstbestimmtes und kreatives Lernen fördern, etwa in Lernfabriken und Experimentierräumen.

Beispielhaft kann hier die TU Darmstadt sein, die einen eigenen Weg fand, ihren Masterstudierenden die Beschäftigung mit Herstellungsprozessen in den Zeiten von Industrie 4.0 und rasant voranschreitender Digitalisierung schmackhaft zu machen: mit einer kleinen Fabrik, die seit einigen Jahren auf dem Campus Lichtwiese steht, mit einer Fertigungsstraße, in der die Studierenden persönlich und in Echtzeit erproben können, was es heißt, im produzierenden Gewerbe zu arbeiten – Pannen und Fehler inklusive.

Mangel an Hochschullehrenden mit Praxiserfahrung

Ein weiterer "neuralgischer Punkt" ist für Acatech-Präsident Spath der zunehmende Mangel an Hochschullehrenden mit Praxiserfahrung. Dass die Ingenieurabsolventen in der Regel über profundes Theoriewissen verfügen, sei unbestritten, was häufig fehle, sei die Fähigkeit, Wissen im Unternehmen situationsbedingt umzusetzen.

Dass das Arbeitsleben für Ingenieure künftig nicht leichter, aber vermutlich noch spannender wird, glaubt Hochschulforscher Frank Ziegele vom Centrum für Hochschulentwicklung. "Routinetätigkeiten werden in der Wirtschaft auch weiterhin abnehmen, stattdessen müssen Ingenieure in der Lage sein, Probleme zu lösen, die man heute noch gar nicht kennt, und das in einem unstrukturierten, dynamischen Umfeld."

Während die Digitalisierung an Hochschulen noch Luft nach oben habe, sei  in den vergangenen drei Jahren Bewegung in die inhaltliche Gestaltung des Studiums gekommen. So sind bei den Ingenieuren 42 Prozent der Studiengänge themenorientiert, wie etwa Verkehrstechnik, Elektromobilität oder Sicherheitstechnik. Ziegele: "Sie sind also eindeutig interdisziplinär gestaltet - etwa im Zusammenspiel von E-Technik, Informatik, Soziologie und VWL. 25 Prozent werden spezieller; zum Beispiel Gebäudephysik oder Verwaltungsinformatik. Als Trend für die Zukunft sehe ich daher interdisziplinäre Themenorientierung und mehr Generalistenwissen, allerdings im Master auch eine Gegenbewegung zu Spezialisierung und Ausdifferenzierung für bestimmte Branchen."

Damit wären die aktuellen Rahmenbedingungen skizziert. Was aber empfehlen Expert*innen jungen Menschen, die vor der Wahl ihres Berufsweges stehen? "Ich rate grundsätzlich dazu, das zu studieren, was einem Spaß macht und sich auf sich und seine Interessen und Stärken zu konzentrieren", sagt Britta Matthes, Leiterin Berufliche Arbeitsmärkte beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. "Insofern rate ich zu keinem spezifischen Studienfach, sondern offen zu sein für Themen jenseits der eigenen Disziplin. Das ist künftig Voraussetzung dafür, ausreichend qualifiziert und erfolgreich zu sein." Wer gerne Data Scientist sein wolle, solle sich dafür entscheiden. Die Wahl aber nur aus dem Motiv zu treffen, dass der Beruf "angesagt" sei, könne nicht zielführend sein.

Autor: Wolfgang Schmitz

Fachlicher Ansprechpartner:
Dr. Saša Jacob
Referent Ingenieurausbildung
E-Mail-Adresse: jacob@vdi.de 

Artikel teilen