Verkehrsraum – eine endliche Ressource
Verkehrsraum ist endlich. Trotz ehrgeiziger Klimaziele und den damit verbundenen Anforderungen an eine Verkehrswende wird er mehr denn je dominiert von emissionsintensivem Individualverkehr. Doch was muss passieren, damit sich das ändert? Expertinnen und Experten von der VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik teilen ihre Visionen, aber auch konkrete Ideen.
Der Verkehrsraum ist vor allem in Städten umkämpft. Dem begrenzten Platz für Straßen, Trassen, Bürgersteige und Radwege stehen vielfältige wirtschaftliche und individuelle Anforderungen an Mobilität und Logistik gegenüber. Pkw, öffentliche Verkehrsmittel auf Straße und Schiene, Lieferfahrzeuge und nicht zuletzt Fußgänger und Fahrradfahrer – sie alle beanspruchen ihren Teil vom Verkehrsraum. Vor dem Hintergrund der Verkehrswende ist seine Verteilung und sinnvolle Nutzung im Sinne von umweltfreundlichen, klimaresilienten und damit lebenswerten Städten eine der Herausforderungen unserer Zeit.
Wir befinden uns mitten in einer Transformation bei der Neuverteilung und -gestaltung des Verkehrsraums. Die Randbedingungen sind gleich geblieben: gewachsene Stadtstrukturen mit dichter Innenstadtbebauung, vielerorts mit Denkmalschutzauflagen belegt. Dem gegenüber stehen andere Anforderungen, als noch vor 30 Jahren. Nicht nur das Pkw-Aufkommen ist im Vergleich zu damals gestiegen, neue Nutzende des Verkehrsraums sind dazugekommen, wie Lastenräder und E-Scooter. Ebenfalls zugenommen hat der Raumbedarf für Logistik: Verteil- und Packstationen inklusive der entsprechenden Lieferfahrzeuge.
Neben diesen wirtschaftlichen und individuellen Anforderungen nehmen in der Folge Maßnahmen für Klimaschutz und -anpassung mehr und mehr Anteil an der Ressource Verkehrsraum ein: breite Grünstreifen, Baumgruppen oder kleine Wasserläufe als Ausgleich zur versiegelten Verkehrsfläche.
Besitzstände aufgeben
Der VDI-Fachbereich Verkehr und Umfeld der Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik (FVT) beschäftigt sich intensiv mit allen Facetten dieser Transformation, unter anderem auf einer der Breakout-Sessions beim DIT 2023. „Die Verkehrswende führt dazu, dass wir Besitzstände aufgeben, unseren Lebensstil hinterfragen müssen, und das tut weh. Alle wollen die Energiewende und keiner das Windrad im Garten – genauso ist es mit der Verkehrswende: bitte nicht vor meinem Haus, weil es meinen Parkplatz kostet!“, so Dr. Florian Krummheuer, Vorsitz des Fachbereichs Verkehr und Umfeld.
Britta Oehlrich von der Hamburger Hochbahn AG arbeitet zusammen mit Florian Krummheuer ehrenamtlich im VDI-Fachbereich Verkehr und Umfeld. Mangele es andernorts häufig an politischer Unterstützung, bemerke sie in Hamburg inzwischen einen starken Willen zur Veränderung: Der „Hamburg-Takt“ habe es sich zum Ziel gesetzt, den Anteil des ÖPNV am städtischen Verkehrsraum bis 2030 um 50 Prozent zu erhöhen. Oehlrich weiß: „Politischer Wille wird letztendlich von den Bürgerinnen und Bürgern getragen und bei Wahlen bestätigt oder abgestraft. Die Bevölkerung möchte ihre Bedürfnisse befriedigt wissen, und als Verkehrsunternehmen sind wir gut beraten, diese Bedürfnisse zu verstehen und Lösungen zu finden.“
„Ich halte es für fragwürdig, komplexe Entscheidungen in Bürgerentscheide zu delegieren“
Nur zu oft verdecken Vorbehalte den Blick auf die zahlreichen Chancen, die der Umbau des Verkehrsraums mit sich bringt. Es gibt weit mehr zu gewinnen, als zu verlieren: Für alle Beteiligten und besonders für das Klima und die Umwelt. Frankreich, zum Beispiel, macht es vor: Seit einigen Jahren kommt es dort, wie auch in anderen Städten weltweit, zu einer Renaissance der Straßenbahnen. Die positiven Erfahrungen zur Aufwertung des Wohnwerts durch weniger Pkw in den Innenstädten lassen Umbauprojekte selbst in mittelalterlich geprägten Städten wie Bordeaux gelingen. Optisch störende Oberleitungen werden durch einen stromführenden Fahrdraht im Gleisbett oder Akkus im Fahrzeug ersetzt – Ingenieurinnen und Ingenieure haben dazu innovative Lösungen parat. Sind in Deutschland viele Ansätze, Straßenbahnen als altes, aber hocheffizientes Verkehrsmittel wiedereinzuführen, in der Vergangenheit häufig an politischen Widerständen gescheitert, so gibt es aktuell gute Nachrichten aus dem hohen Norden: Die Kieler Kommunalpolitik hat sich für vier neue Straßenbahnlinien durch die Stadt entschieden – leider noch ein Einzelfall. Doch woran liegt es anderorts? Am Planungsrecht, an Bewertungsverfahren oder fehlt einfach der politische Wille? Florian Krummheuer bezweifelt, dass sinnvoll sei, komplexe verkehrspolitische Entscheidungen direktdemokratisch zu treffen. Für Fragen zum nötigen Umbau des Verkehrsraums wäre es an den gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten in den kommunalen Gremien, Argumente abzuwägen und sich intensiv einzuarbeiten. Günstigstenfalls führe das zu fundierteren Entscheidungen, als ein direktes Votum der Bevölkerung.
Ressource Bahnhofsvorplatz
„Den zur Verfügung stehenden Raum neu denken – darum geht es! So lässt sich der Ressourcenverbrauch an Flächen und Rohstoffen am effektivsten verringern“, meint Franziska Sack. Auch sie ist Mitglied des Fachbeirats Verkehr und Umfeld der VDI-FVT. Hauptberuflich bei der DB Station und Service AG tätig, beschäftigt sich Frau Sack mit innovativen Gestaltungskonzepten für Bahnhöfe und Bahnhofsvorplätze. Gerade hier schlummere noch viel ungenutztes Potenzial. Als Schnittstelle zum Quartier biete der öffentliche Raum des Bahnhofsumfeldes Platz für intermodale Anschlussmobilität und nutzungsfreundliche Aufenthaltsqualität: Ausgangspunkt für den Einstieg in ein gut ausgebautes, städtisches Radwegenetz, Fahrradparkanlagen und -häuser, Sharing- und Ladestationen für leichte E-Mobilität in Kombination mit Begrünungs- und Aufenthaltselementen. „Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, Bahnhofsvorplätzen und den anschließendem Stadtraum hin zu lebenswerten Orten der Verkehrswende zu transformieren – ganzheitlich und klimagerecht!“.
Die Fachleute des VDI-Fachbereichs Verkehr und Umfeld sind sich einig: Wenn wir den Verkehrsraum bedarfsgerecht und zukunftsorientiert neu gestalten wollen, braucht es das Zusammenspiel aller Beteiligten: Bürgerinnen und Bürgern, der Politik, Fachleuten aus Stadt- und Verkehrsplanung und dem Umweltbereich. Die Umsetzung von Projekten zieht sich oft über mehrere Legislaturperioden. Umso wichtiger ist es, dass sie vorausschauend durchdacht sind und nicht von der Politik instrumentalisiert werden.
Die zukünftige Rolle der Pkw im städtischen Verkehrsraum
Pkw haben ihre Berechtigung auf dem Land. Auch in den Städten der Zukunft und deren Verkehrsraum werden sie weiterhin eine Rolle spielen, allerdings vermehrt als Sharing-Angebote. Vor allem kernstädtisch sind ausgewiesene Bereiche – ähnlich den schon bestehenden Umweltzonen – denkbar, in denen nur kleine, sparsame Fahrzeuge beziehungsweise leichte E-Mobilität zugelassen ist. Denn es wird immer Personen und Reiseanlässe geben, die unterschiedliche oder höhere Komfortansprüche haben, als der ÖPNV oder das Fahrrad bieten. Wer auf die eigenen vier Räder nicht verzichten kann oder will, sollte sich auf die Einführung einer Citymaut und weitere Maßnahmen, wie zentrale Parkraumbewirtschaftung statt Anwohnerparken, den Rückbau von Einfallstraßen, Parkplätzen- und -häusern oder sogar ganzen Stadtautobahnen einstellen.
Autorin: Alice Quack
Fachlicher Ansprechpartner:
Dipl.-Ing. Simon Jäckel
VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik
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E-Mail: jaeckel@vdi.de