Auf dem Weg zur Wasserstoffgesellschaft
Weil für den Klimaschutz die CO2-Emissionen sinken müssen, wird inzwischen weltweit händeringend Ersatz für fossile Brennstoffe gesucht. Die vielleicht vielversprechendste Alternative für ein postfossiles Zeitalter, die derzeit diskutiert wird, ist Wasserstoff. In Deutschland könnte er das Speicherproblem für große Strommengen lösen, die verschlafene Klimawende beim Verkehr beschleunigen und die Dekarbonisierung der Industrie voranbringen.
Das Jahr 2020 hätte das Jahr des Wasserstoffs sein sollen – nicht nur in Japan, wo man anlässlich der 32. Olympischen Sommerspiele zeigen wollte, wie mit Innovation und Technologie das Land den Weg zur Nachhaltigkeit im Rahmen des Pariser Weltklimaabkommens einschlagen will. Wasserstoff spielt dabei in Japan eine tragende Rolle. Schon heute gibt es dort reichlich Brennstoffzellen-Heizgeräte; und der Mirai, der erste laut Hersteller Toyota in Großserie produzierte Brennstoffzellen-Pkw, kommt aus Japan.
Es hat nicht sein sollen. Die 32. Olympischen Sommerspiele sind auf 2021 verschoben. Der Grund: Die Corona-Pandemie gibt weltweit den Takt vor; und das nicht nur in Japan, auch hier in Deutschland. Weshalb dieser Sprung von Ost nach West? Nun, bereits zu Weihnachten 2019 sollte hierzulande die „Nationale Wasserstoffstrategie“ fertig sein. „Wir wollen bei Wasserstofftechnologien die Nummer eins in der Welt werden“, bekräftigte damals Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Denn Wasserstoff biete enormes Potenzial für die Energiewende, den Klimaschutz und Arbeitsplätze. Aber noch liegt keine Kabinettvorlage vor.
Wasserstoff löst die Speicherproblematik
Was aber macht den Wasserstoff so interessant? Der Trumpf des Wasserstoffs ist seine Fähigkeit, Energie in verschiedenen Erscheinungsformen zu koppeln. Ebenso koppelt er die verschiedenen Anwendungen, die Sektoren. So kommen Verkehr und Gebäude, Elektrizität und Wärme zusammen.
Wasserstoff kann im Gegensatz zu fossilen Brennstoffen nicht als Rohstoff gefördert werden, sondern er wird durch verschiedene Verfahren gewonnen. Eines davon ist die Elektrolyse von Wasser mithilfe von Strom. Geschieht dies mit überschüssigem Ökostrom, ist der erzeugte Wasserstoff nicht nur „grün“, sondern er löst auch das Speicherproblem der Ökostromerzeugung im Bereich der Großspeicher. Denn der überschüssige Ökostrom ist im Wasserstoff langfristig in großen Mengen speicherbar.
„Für die Dekarbonisierung des elektrischen und teilweise des thermischen Energiebereichs bedarf es eines großen Energiespeichers, der nur über die Wasserstoffroute darstellbar ist“, betont Erik Wolf, Senior Consultant bei Siemens Gas and Power GmbH & Co. KG. Er ist ehrenamtlich aktiv in der VDI-Fachgesellschaft Energie und Umwelt im Fachausschuss Wasserstoff und Brennstoffzellen. Damit sei die „Quelle des Wasserstoffs“ erklärt.
Was man mit Wasserstoff machen kann
Danach kann Wasserstoff erstens direkt als Brennstoff dienen. Entweder für die Rückverstromung in Brennstoffzellen oder über entsprechende Turbinen; dann hat er als Stromspeicher gedient. Zweitens lässt sich Wasserstoff über bekannte Verfahren weiter wandeln: in nutzbare und brennbare Gase wie Methan oder Ammoniak, sowie in Flüssigkeiten durch die Verflüssigung dieser Gase oder Kraftstoffherstellung mithilfe von Synthesegasen.
In einer Wasserstoffwirtschaft würde H2 zum technologischen und prozesstechnischen Dreh- und Angelpunkt. Altmaier sieht durch „die Herstellung von CO2-freiem und CO2-neutralem Wasserstoff große industriepolitische Chancen“. Das macht ihn angesichts der ausbaufähigen Energiewende im Verkehrs- und Gebäudesektor zum Hoffnungsträger.
Die Potenziale dieser Verfahren für eine Volkswirtschaft haben Forscher der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in Zürich am Beispiel der Schweiz für synthetisches Methan überschlagen. Hier zeigen sich die Vorteile dieser Power-to-Gas-Technologie: Infrastruktur, Handelsmechanismen, Normen und Expertenwissen seien vorhanden, so die Empa in einer Mitteilung: „Damit ist es eine von wenigen Optionen für die Versorgung der Schweiz mit erneuerbaren Energien im Winterhalbjahr.“
Wasserstoffwirtschaft braucht europaweiten Ansatz
Schließlich lassen sich völlig neue Produktionsweisen aufbauen, wie in der Stahlindustrie: Diese forscht europaweit daran, auf Kokskohle als Reduktionsmittel für Eisenerz zu verzichten. Die Stahlkocher von morgen wollen direkt mit Wasserstoff reduzieren. Bis 2050 soll Stahl klimaneutral produziert werden können.
Expertinnen wie Monika Derflinger, Managerin R&A Powertrain Integration im Ford Research & Innovation Center Aachen und Mitglied im Fachausschuss Wasserstoff und Brennstoffzellen des VDI-Fachbereichs Energietechnik, lenken bei allem Engagement für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft den Blick auf einen rationalen Umgang mit den Gegebenheiten. Sie sagt, an allererster Stelle sei Wasserstoff dort einzusetzen, wo es technisch sinnvoll sei. Man dürfe nicht nach dem Motto „Wasserstoff, koste es, was es wolle“ verfahren.
„Wichtigste Priorität muss die größtmögliche Reduzierung des Primärenergieverbrauchs und der Emissionen sowie die Minimierung von Transportverlusten haben“, erklärt sie. „Ein holistischer Ansatz, auf EU-Ebene abgestimmt, der alle Sektoren gleichzeitig betrachtet, ist zwingend erforderlich. Insellösungen, die nur aufgrund bestimmter Förderprogramme entstehen und kein Vernetzungspotenzial bieten, müssen vermieden werden.“
Außerdem brauche es einen gesamtgesellschaftlichen Willen, diese Strategie dann auch umzusetzen, so Derflinger. Gezielte und angemessene Förderprogramme zur Umsetzung dieser Gesamtstrategie würden weiterhin benötigt. „Letztendlich müssen sich die zu entwickelnden Technologien und die Wasserstoffwirtschaft im Alltag ohne Förderung beweisen, aber Stand heute ist das noch nicht möglich“, sagt die Maschinenbauingenieurin.
Farbenlehre des Wasserstoffs: grün, blau, grau
So begehrt der Wasserstoff ist, so tückisch ist seine Herstellung. Damit das Gas keinen CO2-Rucksack trägt, braucht es eben „grünen“ Wasserstoff. Verfahrenstechnisch muss also die Wasserelektrolyse mit Ökostrom das heute in der chemischen Industrie gängige erdgasbasierte Verfahren der Dampfreformation ersetzen, bei dem relativ große Mengen CO2 frei werden. Dann wird aus dem bisherigen „grauen“ Wasserstoff „grüner“.
Hinzu kommt eine weitere Variante: „blauer“ Wasserstoff. Dies ist „grauer“ Wasserstoff, dessen CO2-stoffhaltige Gasströme abgeschieden und dann gespeichert werden. CCS – Carbon Capture & Storage – nennt man diese Verfahren, die in Deutschland hoch umstritten sind, in anderen Ländern aber als Teil von Dekarbonisierungsstrategien akzeptiert werden.
Die Zahlen für Ökostrom, den es bräuchte, um den insgesamt benötigten Wasserstoff für eine Wasserstoffwirtschaft als „grünen“ Wasserstoff herzustellen, variieren, sind aber in jedem Fall immens. Allein die deutsche Chemieindustrie würde mehr Ökostrom benötigen, als heute insgesamt in Deutschland an Strom verbraucht wird, wollte sie komplett auf Ökostrom umstellen. 684,6 Terrawattstunden (TWh) müssten der Branche 2050 zur Verfügung stehen, errechneten die Dechema und Futurecamp für den VCI im Rahmen der Roadmap Chemie 2050. Bei 513 TWh lag laut Umweltbundesamt 2018 der deutsche Stromverbrauch.
„Die heute im Umlauf befindlichen Zahlen zu der Menge Ökostrom rechnen überwiegend den heutigen Bedarf hoch“, mahnt auch hier Monika Derflinger zum genauen Hinsehen. Genau deswegen sei die Entwicklung einer Gesamtstrategie so wichtig. In dieser müsse für jeden Anwendungsfall und jeden Sektor die energieeffizienteste Lösung gewählt sowie die Wandlungs- und Transportverluste minimiert werden: „Zum Beispiel: wasserstoffbetriebene Fahrzeuge nur da, wo es Reichweite und/oder Nutzlast erfordern, um den doppelten Wandlungsverlust (Strom-Wasserstoff-Strom) zu vermeiden“, so Derflinger, die sich bei Ford schon länger mit Brennstoffzellen-Autos beschäftigt. Zwar sprechen sich die allermeisten Beteiligten perspektivisch für eine Wasserstoffwirtschaft auf Basis von „grünem“ Wasserstoff aus, aber angesichts des Ökostrombedarfs bleibt die Frage:
Ist eine Wasserstoffwirtschaft auf Basis von „grünem“ Wasserstoff machbar, und wie?
Nach Meinung von Erik Wolf gibt es „zum grünen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien keine Alternative“. Es gelte, den Aufbau einer Parallelinfrastruktur, basierend auf fossilen Energiequellen, zu vermeiden. Der Experte sieht jedoch einen Bedarf an Technologien für den Übergang: „Sollte der Bedarf sich tatsächlich schneller als die Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff entwickeln, kann im Übergang auf die vorhandenen Wasserstofferzeuger im fossilen Energiesystem zurückgegriffen werden. Beziehungsweise man verbleibt, ebenfalls vorübergehend, auf der fossilen Energieschiene bei bestmöglicher Effizienz.“ Das, so Wolf, sei vertretbar, da im anderen Fall, beim Aufbau einer parallelen, allerdings auf fossilen Quellen beruhenden Erzeugung, erneute Diskussionen über Ausstiegsszenarien aufleben würden. Auch Derflinger spricht sich für eine „kostengünstige und zuverlässige Erzeugung von grünem Wasserstoff im großtechnischen Maßstab“ aus.
Perspektivisch, so Wolf, könne Wasserstoff auch als Importgut aus anderen Regionen der Welt die Angebotslücke schließen – eine Vorstellung, die auch das Bundeswirtschaftsministerium teilt: „Wir sind auch heute schon vom Energieimport im großen Maßstab abhängig: alle fossilen Brennstoffe – Kohle, Erdgas, Kraftstoffe, Heizöl – werden importiert. Da hinterfragt ja auch niemand, ob es den Menschen sicher möglich sein wird, ihre Häuser im Winter zu heizen oder ihre Fahrzeuge zu betanken“, sagt Derflinger. „Ziel der Energiewende hin zur Wasserstoffwirtschaft ist nicht, Deutschland von Energieimporten unabhängig zu machen, sondern den CO2- und Schadstoffausstoß zu senken.“
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sieht „blauen“ Wasserstoff durchaus als Teil einer nationalen Wasserstoffstrategie: Nur so könnten nämlich in möglichst kurzer Zeit größere Mengen an Wasserstoff bereitgestellt werden, um den Technologiehochlauf zu bewerkstelligen. Sonst läuft man in die Falle eines Henne-Ei-Problems.
Wasserstoffwirtschaft nachhaltig mit klaren Verfahren aufsetzen
Neben einer Priorisierung für „grünen“ Wasserstoff“ sei der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur, bestehend aus Transport, lokaler Erzeugung und Verteilung über H2-Gasnetze, essenziell, so Wolf. „Speziell muss erkannt werden, dass die Gasnetze die leistungsfähigsten Energievektoren sind und ihnen, neben dem elektrischen Netz, eine besondere Rolle zukommen muss.“
Wenn es derzeit um Netzausbau im Rahmen der Energiewende geht, dann sind oft die großen Stromtrassen gemeint, die quer durch Deutschland geplant sind. Das Gasnetz bleibt oft noch unbeachtet. „Zusätzliche Kosten durch Netzumlagen und andere Abgaben (EEG) auf die elektrische Energie müssen außen vor bleiben und sind den primären und sekundären Folgen fossiler Energienutzung gegenzurechnen“, fordert Wolf.
Siemens-Ingenieur Wolf denkt aber auch an einheitliche und pragmatische Umweltverträglichkeitsprüfungen und Zulassungsverfahren für Erzeuger, Logistiker und Verbraucher von Wasserstoff. Im Verkehrssektor sei vor allem wichtig, Nachfrage durch Markteinführungsprogramme für Brennstoffzellenfahrzeuge in den verschiedenen Bereichen (Kommunal, Privat, Güterverkehr) zu erzeugen.
Wichtiger Eckpfeiler sei auch, die Wasserstoffherstellung von Anfang an nachhaltig aufzusetzen, nicht nur, was den eingesetzten Strom angeht. Wolf fordert die Integration der Nebenprodukte Wärme und Sauerstoff aus der Wasserelektrolyse, um den Nutzen der eingesetzten erneuerbaren Energie und der Wasserstoffproduktionsanlagen wirtschaftlich zu optimieren.
Baustelle Elektrolyse
„Ein die Sektoren übergreifendes Konzept für ein Wasserstofferzeugungs-, -speicherungs- und -verteilungsmanagement, das lokale und zentrale Erzeugung und Nutzung für die erforderlichen Mengen sinnvoll kombiniert und den Wasserstoff überall verfügbar macht“, nennt Ford-Forscherin Derflinger als eine der drei wichtigsten technologischen Herausforderungen, die es im Rahmen einer Wasserstoffwirtschaft zu lösen gelte.
Hinzu käme aus ihrer Sicht eine „Life Cycle Analysis“ der Technologien samt einer Optimierung der gesamten, großtechnisch auf „grünem“ Wasserstoff basierenden Wertschöpfungskette. „Alle Herausforderungen müssen gleichzeitig angegangen und schrittweise gemeinsam gelöst werden. Erfolgversprechend scheint das Konzept zur Schaffung von zunächst lokalen Modellregionen zur Sektorenkopplung, bei denen die lokalen Besonderheiten Berücksichtigung finden können und die sich im Rahmen der Gesamtstrategie immer weiter vernetzen.“
Laut Erik Wolf ist eine der drei wichtigsten technologischen Herausforderungen auf dem Weg zur Wasserstoffwirtschaft erzeugungsseitig die Massenfertigung im Bereich der Elektrolyse. Hier gelte es sofort zu handeln, da extrem viele Aktivitäten in Asien stattfinden würden. Wolf macht dies unter anderem an der Anzahl erteilter Patente in diesem Feld fest.
Zudem, so Wolf, sei es wünschenswert, eine deutsche oder europäische Brennstoffzellen-Technologieentwicklung aufzubauen, aus der sich die Unternehmen bedienen könnten. In diesem Bereich finden bereits heute sehr viele Aktivitäten in Asien statt. Japan gilt mit seiner Technologie als Vorzeigeland. Wolf ist allerdings skeptisch, ob man den technologischen Anschluss in diesem Bereich noch schaffen könne.
Autorin: Greta Meyer
Fachlicher Ansprechpartner:
Dr.-Ing. Jochen Theloke
Geschäftsführer der VDI-Gesellschaft Energie und Umwelt
E-Mail: theloke@vdi.de