Unternehmen am Scheideweg
Lange waren deutsche Unternehmen am Weltmarkt auch dann erfolgreich, wenn sie nicht in digitale Innovationen investiert haben. Doch mit der Corona-Pandemie wächst der Wettbewerbsdruck. Die Resilienz gegenüber Veränderungen entscheidet über die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen, wie die Publikation „Automation 2030“ von der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik zeigt.
Als sich die VDI/VDE- Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA) in der zweiten Jahreshälfte 2020 mit der Publikation Automation 2030: Zukunft gestalten, Szenarien und Empfehlungen beschäftigte, gab es eine große Überraschung. „Wir haben festgestellt, dass es – auch mit Blick auf Entwicklungen in Deutschland in den letzten zehn Jahren – scheinbar auch ohne große Digitale Innovation geht. Viele Unternehmen in Deutschland waren trotzdem erfolgreich und hatten volle Auftragsbücher“, fasst Dagmar Dirzus eine der Erkenntnisse der Autorengruppe zusammen. Die Geschäftsführerin der VDI/VDE GMA stellt fest: „Vor Corona hätten wir sogar prognostiziert, dass des wirtschaftliche Wachstum noch eine Weile so weiter gehen kann. Doch Corona wirkt wie ein Brandbeschleuniger.“
Deutsche Automobilindustrie gegenüber Tesla ins Hintertreffen geraten
Was war passiert? Alle fünf Jahre listet die GMA die wesentlichen Trends in der Automatisierung auf. Immer wieder wurde darin auf die Bedeutung der Vernetzung für innovative Lösungen hingewiesen. Doch viele Unternehmen hätten diese nicht so vorangetrieben, wie zum Beispiel Firmen in China und den USA. Solange die Auftragsbücher voll und die internationalen Lieferketten stabil waren, sei das scheinbar kein Problem gewesen. Als Beispiel nennt Dirzus die deutsche Automobilindustrie, die zu lange gewartet habe und bei der Elektromobilität gegenüber Tesla ins Hintertreffen geraten sei. „Die Pandemie hat gezeigt, dass Unternehmen ihre Resilienz gegenüber solchen Entwicklungen hinterfragen müssen, auch wenn Krisen, wie sie das Corona-Virus nun ausgelöst hat, nicht vorhersehbar sind“, stellt die GMA-Geschäftsführerin fest.
Roadmap mit vier konkreten Szenarien
Das Autorenteam um Professor Dr. Iris Gräßler, Mitglied des GMA-Beirats, und Dr. Kurt Bettenhausen, Vorsitzender des Interdisziplinären Gremiums Digitalen Transformation im VDI sowie den GMA-Vorsitzenden Dr. Atila Bilgic und GMA-Geschäftsführerin Dirzus haben sich deshalb diesmal für eine andere Form des Berichts entschieden als in der Vergangenheit. Sie nutzten dazu die Szenariotechnik. In einem wissenschaftlich fundierten, methodischen Vorgehen wurden damit wichtige Einflussfaktoren und mögliche Folgen für Unternehmen identifiziert. Die Auswirkungen werden in der Roadmap in vier konkreten Szenarien dargestellt. Sie reichen vom Verharren in der jetzigen Position (Faultier-Syndrom), über eine zu späte Reaktion auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Einflüsse (Deutscher Besserwisser), den hektischen Versuch eines Strategiewechsels („Never ever give up“) bis hin zur entschlossenen Initiative zur Veränderung (Mut zur Veränderung).
Zu jedem der vier Szenarienwerden die charakteristischen Eigenschaften beschrieben, wichtige Aspekte in der Automation verdeutlicht und Handlungsempfehlungen gegeben. An einem konkreten Beispiel aus der Industrie, wird zudem jeweils verdeutlicht, wie das in der Praxis aussehen kann. In Bezug auf das Praxisbeispiel zum Faultiersyndrom sagt Dirzus: „Natürlich kann ein kleines Unternehmen sagen, ich kümmere mich nicht selbst um Softwareentwicklung und lasse das günstig in Indien machen.“ Damit gebe es aber auch Möglichkeit auf, datenbasierte Geschäfte in der eigenen Hand zu behalten. „So hat sich Deutschland weitestgehend nach außen verhalten“, stellt die GMA-Geschäftsführerin fest.
Allerdings: „Durch Corona sind nun alle wachgerüttelt.“ Gleichzeitig gibt es laut Dirzus Möglichkeiten, sich resilient aufzustellen. „Es geht jetzt darum, innovationsfähig zu bleiben und in Geschäftsmodellen zu denken“, erklärt sie. Unternehmen sollten erkennen, wo ihre Kernkompetenzenliegen und wie diese – auch mit Hilfe moderner Automatisierungstechnik – auf neue Geschäftsfelder übertragen werden könnten. So habe der Kaffeespezialist Melitta erkannt, dass er nicht nur Filter für das Heißgetränk, sondern auch FFP2-Mund-Nase-Schutzmasken herstellen kann. Edding habe dagegen seine Kompetenz bei besonders beständigen Lackstiften genutzt, um eine eigene Nagellack-Kollektion aufzulegen.
Dirzus empfiehlt den Unternehmen, die Szenariotechnik auch auf ihre Unternehmen anzuwenden. Sie sollten hinterfragen, wie hoch die Flexibilität im Unternehmen ist, Dinge anders zu machen oder die Produktion anders aufzustellen und ein eigenes Technologie-Roadmapping zu erstellen. Der Roadmapping-Prozess helfe Unternehmen zu erkennen, ob sie sich im Rahmen der gesteckten Ziele entwickelten.
Orientierungshilfe „Automation 2030“
Als Orientierungshilfe dafür bietet die Publikation „Automation 2030“ wichtige Kennzahlen zur Bewertung von eigenen Strategien im internationalen Wettbewerb. „Wir wissen wie wir besser werden können, welches Szenario wir bevorzugen, welches die Stellhebel sind und wie wir diese bedienen“, heißt es in dem Dokument und: „Wir wissen aber auch, dass eine fortgesetzte, beunruhigende Tatenlosigkeit in Bezug auf Digitalisierung den Tod auf Raten bedeuten.“ Deshalb sei es wichtig, Stellhebel für Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) sowie die eigenen Innovationsfähigkeit aktiv zu identifizieren und nicht nur der „deutsche Besserwisser“ zu sein. Dabei helfen beispielsweise der Vergleich der Patentanmeldungen in den Top-10-Ländern und den wichtigsten Technologiebereichen sowie der Vergleich der F&E-Ausgaben. Insbesondere in Hightech-Branchen lohnt es sich zudem, die Gründerszene und das VentureCapital im Blick zu haben. Einige Tabellen und Grafiken dazu sind im GMA-Papier aufgelistet.
„Offenheit von Anfang an erlaubt lebenslange Flexibilität“
Seitens der Automatisierungstechnik ist für bedarfsgerechte Anpassungen in der Produktion und eine Erhöhung der Resilienz von Unternehmen insbesondere Flexibilität gefragt. Vier wesentliche Enabler sieht die Automation 2030 dafür in den nächsten zehn Jahren: Modularität, Konnektivität, Digitale Zwillinge und Autonomie. Der Digitale Zwilling ist dabei ein virtuelles Abbild eines Produkts oder eines Prozesses, das über das reine 3-D-Modell hinaus auch Informationen zur Funktionalität und zum Produktleben beinhaltet. Damit ist neben der Simulation beispielsweise eine vorausschauende Wartung möglich, aber am Ende des Produktlebenszyklus auch die gezielte Verwertung von Komponenten in der Kreislaufwirtschaft. Technologisch erfordere die umfassende und reibungslose Digitalisierung darüber hinaus offene Schnittstellen, die konsequente Auswertung von Informationen und die Anwendung von Künstlicher Intelligenz. „Offenheit von Anfang an erlaubt lebenslange Flexibilität“, heißt es dazu in der GMA-Publikation, die dazu auffordert, alle Informationen zu nutzen, um ständig dazuzulernen und Innovationen hervorzubringen.
Im Zentrum der smarten Fabrik stehe demnach ein durchgängiges Engineering von der Forschung und Entwicklung, Planung und strategischem Marketing über Produktion bis Vertrieb, Instandhaltung und Qualitätssicherung. In Unternehmen werde der Erfolg der digitalen Transformation dann spürbar, wenn die IT-Infrastruktur integrierend und prozessorientiert einem Gesamtkonzept folge. Bisher gebe es noch häufig Flickenteppiche aus spezialisierter Software, die sich an den jeweiligen Verantwortungsbereichen orientiere. Wirklich umgesetzt sei die digitale Transformation in der Produktion, wenn operative Technologien aus der Produktionssteuerung mit Informationstechnologin verschmelzen. Damit könnten Informationen zwischen der Feldebene und der Cloud durchgängig ausgetauscht werden. Damit weiche die klassische, pyramidenförmige Organisationsstruktur in der Automatisierungstechnik – die Automatisierungspyramide – einer Netzwerkstruktur, wobei der neue Mobilfunkstandard 5G als Beschleuniger wirke. Eine entscheidende Rolle für die Kommunikationsfähigkeit von Maschinen und Komponenten im Sinne von cyberphysischen Systemen spielt dabei laut den GMA-Experten auch die Verwaltungsschale (Asset Administration Shell). Sie wurde im Rahmen der Plattform Industrie 4.0 entwickelt und ist Basis für das digitalen Typenschild. Damit identifizieren sich Komponenten in einem Netzwerk automatisch, sobald sie dort eingebunden werden.
„Wir gehen über den klassischen Ansatz der Produktionsoptimierung durch KI (Künstliche Intelligenz), autonome Systeme und weitere Anzeichen der Digitalen Transformation allerdings erst dann hinaus, wenn intelligente und kommunikationsfähige Produkte zu Leistungsbündeln aus realem Produkt und Dienstleistung werden und Unternehmen neue Geschäftsmodelle mit diesen und den gewonnenen Daten realisieren“, hält das GMA-Papier abschließend fest. Erst dann seien Unternehmen in dem wegweisenden Szenario angekommen.
Das Autorenteam von "Automation 2030" verweist in dem Zusammenhang auf Umfragen, die die Universität des Saarlandes Ende 2019 im Auftrag von Roland Berger unter 200 mittelständischen Unternehmen und 20 KI-Experten durchgeführt hat. Demnach sei Europa noch weit entfernt, die Möglichkeiten von KI auszuschöpfen. Empfohlen werde auch in dieser Studie, die neue „KI-Eiszeit“ zu verlassen und das „KI-Paradies“ zu beschreiten, um damit das technisch-ökonomische Potenzial und die gesellschaftliche Akzeptanz parallel zu entwickeln.
Autor: Martin Ciupek
Fachliche Ansprechpartnerin im VDI:
Dr.-Ing. Dagmar Dirzus
VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik
E-Mail: gma@vdi.de