Wettbewerbsfähig bleiben durch resiliente Produktion
Inzwischen ist klar, dass Industrie 4.0 nicht nur die Vernetzung der Automatisierungstechnik betrifft, sondern weit darüber hinausgeht. Das war nicht immer so. Dafür wurde einiges, was heute als Neuheit gepriesen wird, schon vor zehn Jahren vorgedacht. Eine Rückblende.
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) machen vielen Unternehmen Hoffnung, künftig besser auf Störungen in Produktionsprozessen und globalen Lieferketten reagieren zu können. Die Technik ist inzwischen da. Unternehmen, die bereits in der Vergangenheit auf Digitalisierung und Industrie 4.0 gesetzt haben, konnten besser auf die Folgen der Corona-Pandemie reagieren. Sie überwachen Maschinen aus der Ferne, können Veränderungen im Prozess mit Digitalen Zwillingen zunächst virtuell erproben, bevor sie diese umstellen, und bieten Dienstleistungen für ihre Kunden, bei denen auf Reisen verzichtet und Kontaktbeschränkungen eingehalten werden können.
Resilienz war Grundidee von Industrie 4.0
Die Fähigkeit, schnell auf Störungen regieren zu können, wird auch als Resilienz bezeichnet. Sie hat gerade jetzt an Bedeutung gewonnen. Dabei hatte man sich schon vor der Corona-Krise damit beschäftigt. Ein Beispiel dafür ist das Forschungsprojekt Spaicer, das Grundlagen von Industrie 4.0 und KI zur Entwicklung von Software für die Resilienzoptimierung und das Resilienzmanagement nutzt. Das Projekt wird vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) koordiniert.
Was heute teilweise als neuer Aspekt von Industrie 4.0 gefeiert wird, wurde also schon viel früher vorgedacht. Es gehörte auch zur Grundidee, als am 1. April 2011 Industrie 4.0 erstmals von DFKI-Gründungsdirektor Professor Wolfgang Wahlster, dem damaligen Acatech-Präsidenten Professor Henning Kagermann sowie dem heutigen BMBF-Staatssekretär Professor Wolf-Dieter Lukas in VDI nachrichten vorgestellt wurde. „Mir ging es – zwei Jahre nach der Finanzkrise – um Resilienz in Zeiten wirtschaftlicher Schocks und um die Frage, wie wir es schaffen, wettbewerbsfähig zu bleiben“, erinnert sich der ehemalige SAP-Chef Kagermann.
Von da an war ein neues Ziel gesetzt, auch wenn es noch ein paar Jahre reifen musste. Denn gerade in der Fabrikautomation wurde vor zehn Jahren oft die Frage gestellt, ob das nur „alter Wein in neuen Schläuchen“ sei, schließlich treibe die Branche ja schon lange die Automatisierung und Vernetzung in der Industrie voran. Gleichzeitig witterten Unternehmen aus der IT- und der Telekommunikationsbranche ihre Chance, dass sich hier ein neues Geschäftsfeld auftut. Doch bis auf ein paar wenige Unternehmen – meist Konzerne –, die früh miteinander kooperierten, sollte es noch eine Weile dauern, bis ein branchenübergreifendes Verständnis für Industrie 4.0 entstand.
Den Startpunkt für die konsequente Umsetzung sehen viele Protagonisten der ersten Stunde in der Hannover Messe 2013. Eberhard Veit, der damalige Vorstandsvorsitzende von Festo in Esslingen erinnert sich: „Erst bei Übergabe des Eckpunktepapiers ‚Industrie 4.0‘ an die Bundesregierung bei der Hannover Messe auf unserem Festo-Messestand waren wir Protagonisten uns zur Zielsetzung einig. In Mission ‚Außenminister 4.0‘ reiste ich durch 17 Industrieländer der Welt: der globale Hype war gestartet.“
Wo die Automatisierungsbranche 2012 stand, macht Veit an einem Beispiel deutlich. Auf einem Forum in Zürich vor 350 jungen Menschen wurde er damals von der 14-jährigen Amelie gefragt, was denn überhaupt neu sei an Industrie 4.0. Für ihre Generation sei es schließlich schon normal, dass Geschäfte online gemacht würden und sich die Menschen in Foren vernetzten. Selbst Fernseher ließen sich bereits per Smartphone bedienen. Vieles sei bereits ‚smart‘. Sie schloss laut Veit sinngemäß mit den Worten: „Ist das denn sooo revolutionär? ... Unser Lehrer würde sagen: Abgeschrieben von Anderen!“ Und der Topmanager hatte damals nicht sofort eine passende Antwort darauf.
Plattform Industrie 4.0 startete 2013
Der April 2013 war gleichzeitig die Geburtsstunde der Plattform Industrie 4.0, die zunächst als Verbandsplattform gestartet wurde. Gemeinsam schufen der IT-Verband Bitkom, der Maschinenbauverband VDMA sowie der Elektrotechnik- und Elektronik-Verband ZVEI Arbeitsgruppen, die die Grundlagen für das heutige Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (RAMI 4.0) sowie die Verwaltungsschale (Asset Administration Shell, AAS) bilden.
Wiederum im April wurde die Plattform Industrie 4.0 im Jahr 2015 neu aufgestellt. Nun bekam sie durch die Unterstützung von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (BMWi) und Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (BMBF) auch politisch und gesellschaftlich mehr Gewicht. Neben den Industrievertretern wurden ab dem Zeitpunkt auch Gewerkschaften, Politik und Wissenschaft mit einbezogen. Zum Leitungsgremium der Plattform gehörten seinerzeit Siemens-Vorstandsmitglied Siegfried Russwurm; der Festo-Vorstandsvorsitzende Eberhard Veit; SAP-Vorstandsmitglied Bernd Leukert; Reinhard Clemens, Vorstandsmitglied der Deutschen Telekom; BDI-Präsident Ulrich Grillo; Professor Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, sowie Jörg Hofmann, damals zweiter Vorsitzender der IG Metall. Auch die Geschäftsstelle wechselte von Frankfurt, dem Sitz des VDMA, nach Berlin. Seitdem wird die vom BMWi getragene Geschäftsstelle der Plattform Industrie 4.0 vom VDI Technologiezentrum (VDI TZ) zusammen mit dem Partner IFOK GmbH geführt. In insgesamt vier der fünf Arbeitsgruppen (Referenzarchitekturen, Standards und Normung, Forschung und Innovation, Sicherheit vernetzter Systeme, Rechtliche Rahmenbedingungen) der Plattform Industrie 4.0 haben sich die Technologieberater des VDI TZ dabei seitdem eingebracht.
Zweite Welle der Digitalisierung
Heute bilanziert der Mitinitiator von Industrie 4.0 Professor Wahlster: „In den letzten zehn Jahren haben sich 100.000 Publikationen, 10.000 Konferenzen und 1000 Projektkonsortien mit der technisch-wissenschaftlichen Umsetzung von Industrie 4.0 beschäftigt, sodass man heute mehr als 25 Millionen Internetverweise zu dem Begriff findet.“ Für die Zukunft formuliert Wahlster: „Wir dürfen in der Forschung und bei der Innovation für die nächste Phase dieser vierten industriellen Revolution nicht nachlassen und weiterhin besonders in die industrielle KI als zweite Welle der Digitalisierung investieren.“
Inzwischen berät Eberhard Veit mit seinem Unternehmen 4.0VeIT Aufsichtsräte und Topmanager bei der Umsetzung entsprechender Strategien. „Industrie 4.0 ist DER erfolgreiche Technologiekern vieler Unternehmen heute“, sagt er. Damit hat er ein wichtiges Thema für sich aufgegriffen. Denn das aktuelle Industrie 4.0 Barometer 2020, das die Management- und IT-Beratung MHP in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München vor wenigen Wochen veröffentlicht hat, zeigt, dass der I4.0-Reifegrad stark vom Einsatz des Managements abhängt. „Wer die digitale Transformation des eigenen Unternehmens erfolgreich vorantreiben will, sollte vor allem ein hohes Maß an Digitalisierungskompetenz in der Geschäftsführung verankern“, sagt Tom Huber, Associated Partner und Head of Operations Performance & Strategy bei MHP.
Auch Dagmar Dirzus, Geschäftsführerin der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA) blickt nach vorne. „Damit wir in Europa weiterhin führend in der Industrie 4.0 und zukünftiger Industrieplattformen bleiben, haben wir ein paar große Baustellen, auch und vielleicht sogar insbesondere in Deutschland.“ Dazu zählen für sie die Infrastruktur mit Projekten wie GAIA-X und Industrial Cloud, Fähigkeiten der Digitalisierung im Mittelstand aufzubauen, wie beispielsweise Edge-Computing. Es gelte eine Datennutzungsstrategie festzulegen, sowohl für private als auch für industriell genutzte Daten. Ferner ist es für sie wichtig, die Digitalkompetenz der Politik zu erhöhen, damit diese selbst agiler arbeite, aber auch die richtigen Programme zum richtigen Zeitpunkt aufsetzen könne.
Auf dem VDI-Kongress Automation 2021 möchte der VDI am 29. und 30. Juni mit Fachleuten aus der Branche ein Resümee ziehen und die aktuellen Zukunftsthemen diskutieren. In diesem Jahr findet die Veranstaltung rein virtuell statt.
Autor: Martin Ciupek
Ihre Ansprechpartnerin im VDI
Dr. Dagmar Dirzus
VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik
E-Mail-Adresse: dirzus@vdi.de