Deutschland führt in der Automatisierung - noch
Innerhalb von zehn Jahren ist Industrie 4.0 weltweit zum Begriff geworden. Dennoch forderten Teilnehmer einer Podiumsdiskussion auf dem VDI-Kongress Automation 2021 im Juni kürzlich, dass Deutschland nun das Tempo anziehen müsse. Deutlich wurde auch, wie sich die weltweite Wettbewerbssituation im Hinblick auf smarte Industrietechnologien verändert hat. Statt der USA ist nun China der größte Konkurrent.
Verspielt die deutsche Industrie den Vorsprung, den sie sich mit Industrie 4.0 im globalen Wettbewerb erarbeitet hat? Auf dem virtuellen VDI-Kongress Automation 2021 im Juni wurde das in der Diskussionsrunde zu zehn Jahren Industrie 4.0 kontrovers diskutiert. Vorgelegt hatte die Geschäftsführerin der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA), Dagmar Dirzus. „Wir haben gründlich, wie wir in Deutschland sind, alles erarbeitet“, stellte sie fest und bezog sich auf Themen wie das Referenzarchitekturmodell für Industrie 4.0 (RAMI 4.0), Künstliche Intelligenz (KI), Big Data Analytics und die Namur Open Architecture. „Wir haben auch im VDI jedes Jahr Statusreports rausgegeben. Aber der Knall, dass wir jetzt plötzlich die autonome Fabrik haben, wie das die Idee war, haben wir nicht erlebt“, machte sie deutlich. Ihr Zwischenfazit nach zehn Jahren Industrie 4.0 lautetet deshalb: „Ja, wir sind vielleicht schneller als davor. Aber wenn ich mir die Geschwindigkeit von China angucke, dann ist das so, als würden wir uns in Zeitlupe bewegen und andere bewegen sich mit Schallgeschwindigkeit und wir sehen die gar nicht. “
Internationale Wettbewerbssituation
Schnell wurde in der Diskussion deutlich, dass China hier längst die USA als Hauptwettbewerber bei der Digitalisierung von Fabriken überholt hat. In den Anfangsjahren war noch befürchtet worden, dass das Industrial Internet Consortium mithilfe starker US-Konzerne den deutschen Automatisierungsspezialisten und der Plattform Industrie 4.0 davonziehen könne. Das ist allerdings nicht passiert.
Mit viel Hintergrundwissen bemühten sich der Gründer der SmartFactory in Kaiserslautern, Detlef Zühlke, und der ehemalige Festo-Vorstandsvorsitzende und Multiaufsichtsrat Eberhard Veit um eine differenzierte Betrachtung der globalen Wettbewerbssituation.
Zühlke, der bis heute weltweit als Referent auf Fachkongressen und Berater in Sachen Industrie 4.0 unterwegs ist, machte deutlich: „Ich habe viele chinesische Kunden. Man muss sagen, China versteht es sehr gut, sich in der Welt zu verkaufen.“ Es gebe in China zwar sehr viele Quellen und enorm viele Veranstaltungen zur Digitalisierung in der Industrie. Inhaltlich könne er aber nicht feststellen, dass man dort wirklich schneller sei. „Man blickt gerne nach Deutschland, was wir hier machen“, stellte er fest.
Mit Blick auf die nahe Zukunft von Industrie 4.0 sieht Zühlke allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen China und Deutschland. „Dort gibt es enorm viel Fördergeld dafür“, machte er deutlich. Zudem treibe der Staat das Thema gezielt voran, insbesondere auch über die Förderung von Plattformen. „Über diese Plattformen – und damit eine Datenhoheit – versucht man auch eine Bedeutung in der Welt zu erlangen. Das macht die Strategie für uns gefährlich“, mahnte Zühlke. Deswegen ist es aus seiner Sicht auch so wichtig, das GAIA-X Projekt als europäische Plattform für eine vertrauenswürdige Dateninfrastruktur zu etablieren.
Revolutionen brauchen Zeit
Noch ist die deutsche Industrie für Zühlke allerdings in einer guten Position. „Ich glaube, wir sind immer noch auf einem guten Weg und immer noch führend“, fasste er seine internationalen Erfahrungen zusammen. Beim Stichwort Geschwindigkeit verwies er darauf, dass Erneuerungsprozesse wie die ausgerufene „4. Industrielle Revolution“ normalerweise 30 bis 40 Jahre dauerten. Zühlke dazu: „Wir haben jetzt erst zehn Jahre hinter uns. Wir haben mit einzelnen Technologien angefangen, die wir mittlerweile auch schon einsetzen. Wir haben aber auch gemerkt, dass das ein riesiges Gebiet ist. Wir reden jetzt zum Beispiel über die Veränderung von globalen Wertschöpfungsketten. Das dauert einfach.“ Er mahnte jedoch: „Wir müssen aber schnell bleiben, denn andere holen schnell auf.“
Auch Eberhard Veit hat als ehemaliger Festo-Vorstand, früherer Repräsentant der Plattform Industrie 4.0 und heutiger Industrieberater gute Einblicke in internationale Digitalisierungsstrategien. Bis vor einem Jahr war er Mitglied der Kommission China 2025 und oft dort. Nach eigenen Angaben hat er dabei viele Interna und auch die Regularien in China mitbekommen. „Das ist schon ein sehr gelenktes Projekt“, stellte er fest. Nach Veits Einschätzung sehen die Chinesen mit großem Respekt auf Deutschland. Man nehme der deutschen Industrie ab, dass sie auf der unteren Ebene von vernetzungsfähigen Komponenten sehr stark sei und auch sehr gut vorbereiten. Für Veit gibt es jedoch auch eine Schwachstelle: „Wir sind aber da, wo es nach oben in Richtung integrierter Systemlandschaften geht und auch in der Verwendung noch nicht so stark, wie das möglicherweise sein sollte.“
Veit verwies darauf, dass die Ausgangslage in China eine andere ist, als in Deutschland: „Die haben grüne Wiesen und müssen auch nicht ganz so stark aus dem Bestehenden eine Transformation in neue Welten machen, sondern können vieles neu auf der grünen Wiese machen. Die brauchen auch in der Kundenhistorie nicht so stark Rücksicht nehmen.“
Auch Veit sieht die deutsche und europäische Industrie dennoch aktuell im Vorteil gegenüber China. Denn allein mit Software und Vernetzung sei noch keine gute Maschine gebaut. „Wir haben unheimlich großes Applikationswissen, wir haben die Komponenten und wir müssen jetzt mehr in die Umsetzung kommen. Net schwätze, sondern schaffe. Das sollten wir jetzt dringend angehen“, forderte er. Durch die Covid-Krise sei die Industrie noch mehr gezwungen bei der Digitalisierung „in die Pötte zu kommen“, weil es weniger Reisemöglichkeiten gebe als zuvor.
Ungleiche staatliche Förderung
VDI/VDE-GMA-Geschäftsführerin Dirzus vermochte diese Bewertungen der beiden Chinakenner aber nicht zu beruhigen. „Wenn Sie sagen, denen fehlt das Know-how, die haben aber das Geld, dann zähle ich Eins und Eins zusammen. Dann kaufen die sich das Know-how einfach ein, indem sie unsere Firmen kaufen“, warf sie in die Runde. Die Wirtschaftsmacht, die dahintersteht, sei für uns Deutsche allein wegen der schieren Größe von China unfassbar. Das bewertete sie als große Gefahr für die hiesige Industrie.
Industriemanager Veit pflichtete ihr bei. „Zunächst einmal ist die Gefahr immens groß“, sagte er. In seiner Zeit im inneren Zirkel von China 2025 habe er aber auch gesehen, welche Zeit manche Top-Down-Entscheidungen dort brauchten. „Wir sind hier in Europa eher durch Regularien und dadurch, was nicht geht, beschränkt. Da werden wir gebremst. Die gelenkte Autonomie in China ist dagegen mehr gelenkt als autonom. Also genau umgekehrt zu uns“, resümierte er. Mit Blick auf die deutsche Industrie stellte er fest: „Wir haben eine viel zu hohe Autonomie.“ Wenn es um Themen wie Industrie 4.0 geht, dann müsse vielmehr gemeinsam passieren. Daher sei die Initiative der Industrie 4.0 wichtig gewesen. Damit wurde deutlich gemacht, dass das das Engagement dafür aus der Industrie heraus kommen müsse und nicht vom Staat.
Fasziniert zeigte sich Veit indes vom Ehrgeiz in China, die Bildungslandschaft zur Digitalisierung konsequent auszubauen. Er habe dort vor wenigen Monaten zwei Hochschulen besuchen dürfen. „Wenn ich sehe wie viel Geld dafür in China ausgegeben wird, mit welcher Stringenz hier ausgebildet und weitergebildet wird, da muss selbst eine deutsche Vorzeigehochschule wie das KIT schauen, ob sie damit Schritt halten können“, sagte er. Auch die Ausbildungsformate im Hinblick auf die Anwendbarkeit seien bereits auf hohem Niveau, vergleichbar mit den Lernfabriken von Festo.
Auch für Detlef Zühlke ist es jetzt wichtig, dass die Ausbildungslandschaft in Deutschland noch stärker auf die neuen Entwicklungen eingeht. „Wir haben in den letzten Jahren zwar gut gelernt. Was am Anfang aber noch nicht da war, ist das Interdisziplinäre. Wir haben immer noch in Silos ausgebildet, den Maschinenbauer, den Elektriker und den Informatiker.“ Auch Unternehmen hätten das getrennt. „Das ist jetzt zum Glück aufgebrochen. Aber auch im Studium ist es noch relativ schwer aus diesen Silos auszubrechen“, sagte er. Es gebe zwar inzwischen Vorlesungen, um das interdisziplinäre Verständnis zu schaffen. Allerdings sehe er dort noch erheblichen Verbesserungsbedarf. Er stellte fest: „Da sind die Chinesen – übrigens auch gelenkt durch den Staat – erfolgreicher, indem sie die Studenten viel mehr zwingen. Da geht es nicht um eine Zahl an Semesterwochenstunden, sondern es wird gesagt, das ist nötig und das macht ihr jetzt!“
Nachteile durch Regulierung?
Auch die Regulierung von Entwicklungen im Kontext der Digitalisierung war Thema in der Diskussionsrunde auf dem VDI-Kongress Automation 2021. Dagmar Dirzus hatte hier ein aktuelles Hemmnis für ein schnelleres Vorgehen bei Industrie 4.0 in Deutschland und Europa ausgemacht. Wo das Vertrauen in die Technik und die Unternehmen fehle, werde durch strenge Regularien für Sicherheit gesorgt, so die Geschäftsführerin der VDI/VDE-GMA – „am besten EU-weit mit einem Gesetzesentwurf“. Als aktuelles Beispiel nannte sie die Künstliche Intelligenz. Dirzus dazu: „Wir denken jetzt – 2021 – über die Nutzung von KI nach, erwarten aber, dass das Gesetz erst 2024 fertig ist. Was mach ich dann in den nächsten drei Jahren?“ In der Praxis werde in einem solchen Fall eher abgewartet, als etwas zu entwickeln und vielleicht sogar schon einmal patentieren zu lassen.
Und wie sieht es mit Regularien in China und den USA aus? Smart-Factory-Experte Zühlke stellte dazu fest: „In China gibt es ebenfalls viele Regularien und die sind in letzter Zeit sogar schlimmer geworden.“ Ihm falle das bei seinen regelmäßigen Vorträgen in dem Land immer häufiger auf. „In den USA ist das zum Teil genauso, wobei man dort eine ganz andere Herangehensweise hat“, fügte er hinzu. Die USA würden derzeit allerdings eher durch den Mangel an Fachkräften im Maschinenbau gebremst. „Das Hauptthema bei meinen Freunden in den USA ist, wie sie ihre Workforce schaffen können. Die haben jede Menge IT-Fachleute aber sie haben niemanden mehr, der die Brücke in den Maschinenbau hinein bauen kann. Die wurden entweder wegrationalisiert oder ihre Arbeit wurde nach China verlagert“, schilderte er. Jetzt werde das mit politischer Hilfe wieder mühsam gedreht.
Weltweite Aufgabe
Zühlke lenkte den Blick aber über die öffentlichen weltweiten Treiber von Industrie 4.0 hinaus, indem er folgende Frage aufwarf: „Wir sprechen gerade nur über die hochindustrialisierten Länder. Was machen wir mit dem Rest der Welt, die das nicht können?“ Über das World Economic Forum habe er beispielsweise auch viele Kontakte Richtung Malaysia und Vietnam, die wirtschaftlich noch relativ gut dastehen. Künftig müsse man sich auch mit der Frage beschäftigen, ob man solche Länder abhängen oder mitnehmen wolle.
Dazu urteilte Industriemanager Veit: „Die Industrieländer machen das Rennen im Moment unter sich aus. Die Schwellenländer werden aber sicher ihren Anteil erhalten, wenn die großen Schritte gemacht sind.“
Anmerkung: Die Podiumsdiskussion „10 Jahre Industrie 4.0 – Wunsch und Wirklichkeit!“ fand am 29.6.2021 ihm Rahmen des Kongresses Automation 2021 online statt. Organisiert wurde die Veranstaltung von der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA). Moderiert wurde die Diskussion von Martin Ciupek, Ressortleiter Produktion&Umwelt bei den VDI nachrichten.
Autor: Martin Ciupek
Ansprechpartner im VDI:
Dipl.-Ing. Dieter Westerkamp
VDI-Topthema Digitale Transformation
E-Mail-Adresse: westerkamp@vdi.de