Sicherheit autonomer Fahrzeuge: Zuverlässiger als der Mensch?
Die Technik lässt sich nicht ablenken, ist nicht aggressiv und wird auch nicht müde. Autonomes Fahren könnte unsere Straßen also erheblich sicherer machen. Darin sind sich die Experten einig. Zuvor müssen jedoch einige Herausforderungen bewältigt werden – damit keine neuen Risiken entstehen.
Viele Innovationen stammen aus Deutschland oder werden hier weiterentwickelt. Trotzdem steht die Bevölkerung Veränderungen, die mit modernen Technologien einhergehen, traditionell eher skeptisch gegenüber. Ein Phänomen, das im Ausland unter dem Begriff „German Angst“ bekannt ist. Das zeigt sich auch beim Thema autonomes Fahren. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung befürchten viele Menschen, dass es durch fehlerhafte Technik zu gefährlichen Situationen kommen könnte. Sie wollen die Kontrolle über das eigene Fahrzeug nicht verlieren. Tatsächlich versprechen sich Ingenieure und Verkehrsexperten von den neuen Technologien das genaue Gegenteil: weniger Unfälle.
Weniger Unfalltote durch autonomes Fahren?
Auf den deutschen Straßen kracht es mit großer Regelmäßigkeit: Über zweieinhalb Millionen Unfälle registrieren die Behörden jedes Jahr, mit Verletzten in knapp zwölf Prozent der Fälle. 2018 zählte das Statistische Bundesamt zudem 3.265 Verkehrstote. Die Fahrzeuge werden zwar immer sicherer, doch das gilt nicht für die sogenannten ungeschützten Verkehrsteilnehmer, vor allem Radfahrer, Motorradfahrer und Fußgänger, die inzwischen mehr als die Hälfte der Todesfälle ausmachen.
Häufig werden sie beim Abbiegen übersehen oder ein Pkw-Fahrer nimmt ihnen aus Unachtsamkeit die Vorfahrt – bei jedem zehnten tödlichen Unfall war einer der Verkehrsteilnehmer schlicht und einfach abgelenkt. „Das wäre mit einem autonomen Fahrzeug nicht möglich“, sagt Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg, Leiter der Fahrzeugsicherheit bei der Daimler AG und vormaliger Vorsitzender der VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik. „Die eingebauten Sensoren müssen das Hindernis erkennen und gegebenenfalls eine autonome Bremsung auslösen.“ Bei der Maschine fällt zudem die Reaktionszeit kürzer aus als beim Menschen. Die Mitglieder des VDI-Fachbeirats Fahrzeugsicherheit, Prozesse, Methoden schätzen, dass die zunehmende Verbreitung automatisierter Fahrfunktionen aller Stufen die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland daher schon bis zum Jahr 2025 um bis zu 25 Prozent senken könnte. Diese hohen Werte sind nicht aus der Luft gegriffen, denn erste Effekte lassen sich bereits messen: Der Einsatz von aktiven Fahrzeugsicherheitssystemen wie Spurhaltesystem oder die automatische Notbremsfunktion in unterschiedlichen Fahrzeugklassen hat die Unfallhäufigkeit um über 29 Prozent gesenkt. Das haben Untersuchungen von Behörden, Versicherern und Fahrzeugherstellern ergeben.
Doch damit noch nicht genug: Nach einer Studie der Schweizer Beratungsstelle für Unfallverhütung steigt die Wahrscheinlichkeit für Unfälle schon durch aggressives Fahrverhalten. Obwohl es schwierig ist, Aggressivität zu messen oder im Nachhinein als Ursache zu bestimmen, gehen die Autoren der Studie davon aus, dass zwischen fünf und zehn Prozent der Unfälle in der Schweiz direkt darauf zurückzuführen sind. Abgesehen davon, dass ein autonomes Fahrzeug Emotionen wie Frust, schlechte Laune oder Provokationen nicht kennt, wird die Software auf tendenziell defensive Reaktionen programmiert – was also wiederum die Zahl der Zusammenstöße senken dürfte.
Einbindung von Radfahrern über Smartphones?
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Autonomes Fahren bedeutet nicht nur, dass jedes einzelne Fahrzeug mit hochentwickelter Technologie ausgestattet ist. Über Mobilfunk oder eine spezielle Form des WLAN tauschen die Autos untereinander Informationen aus. Diese sogenannte Car-to-Car-Communication bietet die Möglichkeit, dass sich Fahrzeuge beispielsweise gegenseitig vor Hindernissen wie einem liegengebliebenen Auto warnen. Bleibt noch die Frage, wie sich ungeschützte Verkehrsteilnehmer am besten in dieses System einbinden lassen. „Es könnte weit über Sensoren hinausgehen, die Hindernisse wahrnehmen und einen Bremsvorgang auslösen“, sagt Schöneburg. Beispielsweise wäre es denkbar, dass die Smartphones von Fahrradfahrern ein Signal an die autonomen Fahrzeuge aussenden. „Der Fahrradfahrer wäre so auch zusätzlich über diese Informationen für die Fahrzeuge sichtbar“, erklärt Schöneburg.
Wie arrangieren sich menschliche Fahrer und autonome Autos?
Das klingt nach einer perfekten Verkehrswelt, in der es doch eigentlich so gut wie keine Unfälle mehr geben sollte? Zumindest in der Theorie der vollständigen Autonomie. Ob diese jemals eintreten wird, weiß allerdings keiner, und die Übergangszeit wird in puncto Sicherheit ganz eigene Probleme mit sich bringen. Schließlich werden sich autonome Fahrzeuge lange Jahre die Straße mit Autos teilen müssen, die auf herkömmliche Weise manuell gelenkt werden. Menschliche Fehler wird es also zunächst weiterhin geben. „Vielleicht könnten autonome Fahrzeuge aber schon in diesem Stadium die Sicherheit dadurch erhöhen, dass sie als Vorbilder dienen“, sagt Prof. Dr.-Ing. Lutz Eckstein, Direktor des Instituts für Kraftfahrzeuge (ika) der RWTH Aachen und aktueller Vorsitzender der VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik. „Tatsächlich fahren die meisten Menschen ja sehr vernünftig. Wir nehmen nur die eher aggressiven Fahrer stärker wahr. Ferner können automatisierte Fahrfunktionen das Entstehen von kritischen Verkehrssituationen durch eine vorausschauende Fahrweise vermeiden und zeigen, dass der Straßenverkehr mit mehr Rücksicht besser funktioniert.“
Solch eine Entwicklung wäre vor allem dann wahrscheinlich, wenn das autonome Fahrzeug von den übrigen Verkehrsteilnehmern nicht als Hindernis wahrgenommen wird. „Das ist allerdings ein komplexes Thema“, sagt Reiner Friedrich, Hauptabteilungsleiter Produkte und Anforderungen bei BMW und Mitglied des VDI-Fachbeirats Automatisierung, Vernetzung, E/E. „Autonome Fahrzeuge müssen sich nach der heutigen Rechtsprechung vollständig regelkonform verhalten. Diese grundsätzlich sinnvolle Regelung kann jedoch im realen Straßenverkehr zu großen Akzeptanzproblemen führen, da dort menschliche Fahrer situativ den Interpretationsspielraum der Regeln nutzen.“
Anders gesagt: Es könnten kritische Situationen daraus entstehen, dass menschliche Fahrer nicht damit rechnen, dass ein autonomes Fahrzeug beispielsweise vor einer durchgezogenen Linie abbremst, während alle anderen sie ignorieren, um an einem falsch parkenden Auto vorbeizufahren. „Ich würde daher eine sachliche, pragmatische Diskussion dieses Sachverhalts begrüßen“, sagt Friedrich. Eine neue Definition von Regeln hält auch Eckstein für sinnvoll. „Ein gutes Beispiel ist der vorgeschriebene Sicherheitsabstand. Der müsste neu festgelegt werden, denn das autonome Fahrzeug hat eine wesentlich kürzere Reaktionszeit als menschliche Fahrer und kommt daher schneller zum Stehen.“
Was passiert bei einem Ausfall der Sensoren?
Eines fällt auf: Bei allen Diskussionen zum Thema Sicherheit scheinen die Experten davon auszugehen, dass sich der Mensch auf sein autonomes Fahrzeug verlassen kann. Doch was passiert, wenn ein wichtiger Sensor ausfällt oder keine Verbindung zur Cloud besteht? „Natürlich steht die Sicherheit der Technologie an erster Stelle“, betont Schöneburg. „Beispielsweise wird es bei wichtigen Sensoren Redundanzen geben, die sich einschalten, wenn es zu einem Ausfall kommen sollte. Außerdem muss sich jedes autonome Fahrzeug auch ohne Zugang zur Cloud sicher auf der Straße bewegen. Das Erkennen von Hindernissen erfolgt daher grundsätzlich lokal im Auto selbst.“
Meldungen über Unfälle mit autonomen Fahrzeugen in den USA sprechen da eine andere Sprache, die Eckstein auch nicht wegdiskutieren will: „Eine Problematik sehe ich in den Start-ups, die schnelle Erfolgsmeldungen brauchen, um weitere Investoren zu begeistern. Teilweise testen sie ihre Fahrzeuge auf der Straße, obwohl die Technik noch nicht so weit ist.“ Die etablierten Autobauer könnten sich seiner Meinung nach Skandale dieser Art nicht leisten, „weswegen sie deutlich vorsichtiger agieren.“
Wie kann die Sicherheit bei der Zulassung geprüft werden?
Das führt zu der Frage, wie die Sicherheit bei der Zulassung autonomer Fahrzeuge überhaupt überprüft werden kann. Denkbar und diskutiert wird eine Zertifizierung, die auf drei Säulen ruht: Es beginnt mit Fahrten auf abgesperrtem Gelände oder Tests im Labor. Zweitens müsste sich das Fahrzeug im realen Straßenverkehr beweisen. Als Drittes stünden umfangreiche Simulationen an, die sich gerade in der Vorbereitung befinden. Sie prüfen, wie sich die Software in einer Vielzahl von kritischen Situationen (Edge-Cases) verhält. Stark simulationsgestützte Verfahren sind in der Luftfahrt üblich.
Die rechtliche Situation sieht in Deutschland ohnehin so aus, dass noch ein sogenannter Sicherheitsfahrer an Bord sein muss. Es ist zu Testzwecken erlaubt, das Fahrzeug beispielsweise auf der Autobahn für einen Teil der Strecke autonom steuern zu lassen, der menschliche Fahrer muss aber gegebenenfalls eingreifen können. Ausnahmen gibt es auch für genehmigte Pilotprojekte, etwa für fahrerlose, elektrisch angetriebene Shuttles auf festgelegten Strecken, die aber ebenfalls durch eine verantwortliche Person begleitet werden.
Das komplett fahrerlose Fahren für Privatfahrzeuge ist rechtlich derzeit also noch nicht möglich. Vermutlich wird es erst nach und nach für einzelne Bereiche freigeben. Fachleute sprechen von „Domänen“. Denn auf der Autobahn lässt es sich beispielsweise leichter umsetzen, als auf einer Landstraße, wo die Autos ohne Leitplanke in der Mitte zum Teil in sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit unterwegs sind. Langfristig könnte das übrigens Einfluss auf die Infrastruktur haben und zu mehr Schnellstraßen führen.
Was sind die größten Herausforderungen fürs autonome Fahren?
Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg, und auch wenn die autonomen Systeme schon sehr weit entwickelt sind, gibt es noch ungelöste Fragen. „Wie erreichen wir es zum Beispiel, dass der Fahrer, der derzeit noch an Bord sein muss, rechtzeitig informiert wird, wenn er eingreifen muss?“, fragt Schöneburg. Schließlich darf er nicht schlafen, wenn die Autobahnabfahrt erreicht ist. Mit jedem weiteren Schritt kommen neue Herausforderungen hinzu: Beispielsweise muss der Airbag woanders untergebracht werden, sobald sich das Lenkrad versenken lässt. Schöneburg könnte sich sogar vorstellen, dass sich die Menschen eines Tages in bestimmten Verkehrsbereichen mit ausschließlich automatisiert fahrenden Fahrzeugen und strikter Verkehrstrennung abschnallen dürfen. „Ansonsten, im Mischverkehr mit allen Verkehrsteilnehmern, müssen die Fahrzeuge natürlich weiterhin so gebaut sein, dass die passive Sicherheit gewährleistet ist.“
Die Automobilhersteller bewegen sich derzeit also in einem interessanten Spannungsfeld zwischen neuen Möglichkeiten und großen Herausforderungen. Beispielsweise wäre es technisch denkbar, autonome Fahrzeuge über eine Leitstelle zu lenken. Um Fernzugriffe über Hacker auszuschließen, halten es manche Experten jedoch für ratsam, Steuerungseinheiten ausschließlich in den Fahrzeugen zu verbauen. „Cyber-Protection ist ohnehin ein wesentliches Thema bei der Fahrzeugentwicklung“, ergänzt Friedrich. Dabei entstehe eine Security-Architektur mit einer Vielzahl von Abwehr-Ebenen.
„Der größte Entwicklungsaufwand besteht aber ohne Frage in der Erstellung des Situationskatalogs“, sagt Friedrich. In der Software muss für unzählige Fälle hinterlegt sein, wie das Auto reagieren soll. Denn auch wenn die meisten Unfälle auf Fehler der Fahrer zurückzuführen sind, der Mensch fährt statistisch gesehen 200 Millionen Kilometer, bevor es zu einem fatalen Unfall kommt – diese Leistung muss das autonome System erstmal schaffen.
Veröffentlichungsdatum: 07. Mai 2019
Autor: Nicole Lücke