Was ist Technikethik?
Was heißt Technikethik und was sind die Kernaufgaben? Und warum gehört sie nicht in den Elfenbeinturm sondern auch zur Arbeit und Entwicklung von Ingenieurinnen und Ingenieuren? Antworten auf diese Fragen hat die Philosophin Dr. Suzana Alpsancar, Juniorprofessorin für Angewandte Ethik an der Universität Paderborn und assoziiertes Mitglied des Heinz Nixdorf Instituts.
Was ist Technikethik?
Suzana Alpsancar: Technikethik denkt über ethische, soziale und politische Herausforderungen nach, die sich im Zuge der Entwicklung, des Gebrauchs und der Entsorung neuer Technologien stellen. Sie wurde virulent, als Technikkonflikte zum Politikum wurden und die Konsequenzen technischer Möglichkeiten unserer Einschätzungsvermögen überstiegen. Paradigmatisch hierfür steht die Entwicklung und der Abwurf der Atombombe durch die USA während des Zweiten Weltkrieges. Angesichts ihres präzedenzlosen Zerstörungspotenzials stellten sich hier typische Fragen der Technikethik:
- Welche Verantwortung sollte den an der Entwicklung der Atombombe beteiligten Expertinnen und Experten zukommen?
- Wie soll man mit der dual-use-Problematik technologischer Entwicklungen umgehen: Kernenergie versus Atomwaffen?
- Was bedeutet es, dass bestimmte Personen oder Kollektive über Mittel verfügen, die die Existenz der Menschheit im Ganzen bedroht?
Mit den 1970er Jahren, im Zuge von Bürgerbewegungen, speziell zu Fragen der Umweltverschmutzung, der Nutzung von Kernenergie und Atomwaffen – sowie der Ölkrise und strukturellen gesellschaftlichen Veränderungen, hat sich die Technikethik als eine sogenannte angewandte Ethik professionalisiert und institutionell etabliert – ähnlich wie die Technikfolgenabschätzung, die aber von Beginn an thematisch breiter, interdisziplinärer aufgestellt war und einen expliziten Beratungsbezug hatte.
VDI: Welche großen Missverständnisse und Schwierigkeiten bringt das Thema mit sich?
Suzana Alpsancar: Ein klassisches Missverständnis gegenüber der philosophischen Ethik besteht in der Annahme, diese würde einem sagen, was man tun soll, so wie wir es aus religiösen Vorschriften kennen oder wir es in moralischen Erwartungen artikulieren können, zum Beispiel "tu dies", "lass das", "man müsste aber dies und jenes in Bewegung setzen", "das ist gut" und so weiter. Die moderne philosophische Ethik strebt danach, moralische Urteile zu begründen (Warum ist es geboten, dies oder jenes zu tun oder zu lassen?) und grenzt sich hierin von einer "bloßen Moral" ab.
Im Kern geht es um die Frage, wie wir mit der normativen Offenheit liberaler, demokratischer Gesellschaften vernünftig umgehen wollen. Die Philosophie kann zur Klärung beitragen, indem sie Argumente und Gründe prüft, anbietet, diskutiert.
Im Fall der Technikethik geht es darum, von Technologien ausgehende Fragen besser einschätzen zu können, um rechtfertigbare Entscheidungen treffen zu können. So könnte man zum Beispiel aus ethischer Sicht fordern, dass medizinisches Personal eine hinreichendes Verständnis über das Zustandekommen von KI-gestützten medizinischen Diagnosen haben muss, um erstens ihrerseits angemessene Entscheidungen mit Blick auf die algorithmischen Empfehlungen treffen zu können und diese zweitens gegenüber Patientinnen und Patienten sowie Dritten angemessen begründen zu können.
VDI: Hat sich der Anspruch durch die globale Vernetzung der Wirtschaft und Forschung verändert?
Suzana Alpsancar: Für gewöhnlich bemüht die Technikethik eine Einschätzung der Konsequenzen des Gebrauchs von Technologien, die sich noch in der Mache befinden. Damit ist die prinzipielle Schwierigkeit gegeben, über den tatsächlichen Gebrauch und ihre Konsequenzen keine sicheren Urteile fällen zu können. In gewisser Weise muss die technikethische Reflexion spekulativ verfahren. Die Unsicherheiten über Entwicklung und tatsächliche Nutzung neuerer Technologien sind in den letzten Jahrzehnten generell gestiegen, unter anderem aufgrund der sich beschleunigenden Globalisierung und ihrer verzweigten transnationalen Arbeitsteilung. Für international agierende Technik-Unternehmen werden zudem kulturelle Unterschiede bedeutsamer, die prägen, ob und wie bestimmte Technologien angenommen, adaptiert, modifiziert und gebraucht werden, etwa Roboter als soziale Agenten in der Pflege, Zuhause oder im Restaurant. Da außerdem politische und ökonomische Rahmenbedingungen stark divergieren, muss jede technikethische Analyse kontextbezogen verfahren.
Hinzu kommt, dass wir seit etwa 20 Jahren mit Big Data, jüngsten KI-Methoden und der Kommerzialisierung dieser neuen digitalen Technologien einen Wandel erleben, der bereits in sehr vielen Arbeits- und Lebensbereichen bisherige Strukturen, soziale und professionelle Rollen, Praktiken und Routinen transformiert hat. Zum Teil geraten Institutionen praktisch in Zugzwang, weil einige ökonomische Player technische Realitäten schaffen, ohne dass gesellschaftlich ein Rahmen des Ausprobieren hierfür gesetzt wäre. Zum Beispiel bringt Open AI den von Microsoft, Elon Musk u.a. finanzierten Chatbot ChatGPT auf den Markt und alle Bildungsstätten, derer Sprachen der Chatbot mächtig ist, stehen nun vor der Frage, wie sie mit den Möglichkeiten der Textgenerierung in Lehre und Prüfung umgehen wollen und sollen. Technikgetriebene Herausforderungen wie diese veranlassen uns dazu, normative Fragen neu zu verhandeln. Eine technikethische Reflexion versucht Klarheit in diese Herausforderungen zu bringen, indem sie die normativen Bezüge der Situationen analysiert, Argumente prüft und aufstellt und verschiedenen Positionen gegeneinander abwägt.
Interview: Gudrun Huneke
Vita
Dr. Suzana Alpsancar ist Juniorprofessorin für Angewandte Ethik an der Universität Paderborn und assoziiertes Mitglied des Heinz Nixdorf Instituts. Im Fokus ihrer Forschung und Lehre liegen technikphilosophische und -ethische Analysen digitaler Welten. Sie ist Mitherausgeberin des Jahrbuchs Technikphilosophie, Principal Investigator im interdisziplinären Sonderforschungsbereich "Constructing Explainability” der Universitäten Paderborn und Bielefeld (gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft) sowie im Forschungsnetzwerk SAIL, in dem es um eine nachhaltige Gestaltung von KI-Komponenten geht (gefördert vom nordrhein-westfälischen Ministeriums für Kultur und Wissenschaft).
Seit 2012 ist sie Mitglied der VDI-Arbeitsgruppen “Philosophie und Technik” und "Philosophie". Seit 2021 bringt sie ihre ethische Expertise in die Gestaltung der Richtlinie zum assistierten, automatisierten und vernetzen Fahren ein (VDI-MT 5900 Blatt 4 - Projekt).
Übrigens:
Die VDI-Arbeitsgruppe "Philosophie und Technik" war unter anderem verantwortlich für die Erstellung der Richtlinie VDI 3780 zur Technikbewertung und hat das informative Nachschlagewerk “Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie”, Christoph Hubig, Alois Huning, Günter Ropohl (Hg.), 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Darmstädter Ausgabe, ISBN 978-3-8360-3594-1 bereits in dritter Auflage herausgegeben.