Verteilnetze, das vergessene Rückgrat der Energiewende
Verteilnetze – das vergessene Rückgrat der Energiewende? Während die Energiewende und der Ausbau der erneuerbaren Energien in der öffentlichen Diskussion viel Aufmerksamkeit erhalten, bleiben die Probleme der Verteilnetze fast unsichtbar. Dabei sind sie der zentrale Schlüssel für die Integration erneuerbarer Energien, den Hochlauf der Elektromobilität und die Dekarbonisierung der Industrie.
Darum werden wir auf dem Deutschen Ingenieurtag (DIT) 2025 in der Fachsession Energie genauer hinsehen. Energieexperte Dr. Tim Meyer spricht zu „Verteilnetze: das vergessene Rückgrat der Energiewende“. Vorab erzählt er uns im Interview, wo wir stehen, wie wir Zeit gewinnen und wie wir die Netze fit für die Zukunft machen.
VDI: Sie haben einmal gesagt, dass die Verteilnetze das vergessene Rückgrat der Energiewende sind. Warum wird ihre Bedeutung unterschätzt?
Tim Meyer: Das liegt an zwei Hauptpunkten. Erstens sind mögliche Engpässe im Übertragungsnetz früher sichtbar geworden – etwa in Form von Redispatch-Maßnahmen, wenn Windstrom aus dem Norden nicht nach Süden transportiert werden kann. Zweitens ist die Auseinandersetzung mit den Verteilnetzen sehr mühsam. Denn es ist kleinteilig und vielschichtig. Das Thema ist also regulatorisch und organisatorisch sehr komplex und es tut noch nicht überall richtig weh – es wurde deshalb lange verdrängt.
VDI: Welche Versäumnisse gab es in den vergangenen Jahren?
Tim Meyer: Hier gibt es zahlreiche Ebenen. Die drei wichtigsten sind aus meiner Sicht der politische Rahmen, die Digitalisierung und die fragmentierte Organisation.
- Politischer Rahmen: Ein riesiges Versäumnis war, dass in der Politik lange Zeit davon ausgegangen wurde, dass der Strombedarf trotz Energiewende nicht steigt. Noch unter Minister Altmaier wurden Prognosen veröffentlicht, die keine steigenden Strommengen vorsahen. Die Netzbetreiber hatten also keinen sinnvollen Planungsrahmen. Erst die letzte Bundesregierung hat in sich halbwegs schlüssige Mengengerüste vorgelegt, in denen der Stromverbrauch massiv steigt, vor allem durch Elektrifizierung von Mobilität, Wärme und Industrie. Auch der zusätzliche Stromverbrauch muss in die Verteilnetze. Doch bis letztes Jahr fehlte die systematische Netzplanung, die uns darauf vorbereitet.
- Digitalisierung: im Betrieb sind viele Verteilnetze auf den unteren Spannungsebenen noch weitgehend „black box“. Smart Meter gibt es kaum. Und auch in der Planung und in den Geschäftsprozessen sind viele Verteilnetzbetreiber nicht ausreichend digitalisiert, es fehlen elektronische Planungsdaten sowie Anfragewege und werden händisch Formblätter ausgefüllt etc. In vielen Feldern fehlen auch noch die Standards für einheitliche Datenerhebung und Prozesse. Aber Digitalisierung ohne Masse ist zu teuer.
- Fragmentierung: Wir haben über 860 Netzbetreiber. Der kleinste Netzbetreiber ist um den Faktor 1000 kleiner als der größte. Wir haben hunderte Softwaresysteme, verschiedene Details bei technischen Anschlussbedingungen, Ausschreibungen, Geschäftsprozesse und vieles mehr. Das treibt die Kosten und verlangsamt die Weiterentwicklung. Hier bräuchten wir einheitliche Standards und weniger Betreiber.
VDI: Wie schlägt sich das konkret in der Netzplanung nieder?
Tim Meyer: Bis vor kurzem gab es keine übergreifende Planung der Verteilnetze. Erst 2024 mussten alle Netzbetreiber eine durchgängige Netzplanung vorlegen, die die o.g. Mengengerüste für Verbrauch, Einspeiser, Ladeinfrastruktur usw. berücksichtigt. Auch vorher haben die Netzbetreiber in größeren Planungsregionen für sich geplant – aber ohne abgestimmte Prämissen und ambitionierte Energiewendeziele.

Dr. Tim Meyer hat Elektrotechnik studiert und am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) promoviert. Nach Tätigkeiten in der Fraunhofer-Gesellschaft, der Solarindustrie und als Gründer im Strommarkt war er zuletzt Vorstand der Naturstrom AG. Heute ist er über 3EPunkt als Berater und Interimsmanager in der Strategie- und Geschäftsentwicklung für Energieunternehmen tätig. In Vorträgen und Postings erläutert er Hintergründe, globale Markttrends und wirtschaftliche Chancen der Energiewende.
VDI: Digitalisierung könnte hier helfen. Wie weit sind die Verteilnetze in diesem Bereich?
Tim Meyer: Leider sind die Verteilnetze auf den unteren Spannungsebenen oft noch eine Blackbox. Viele Netzbetreiber wissen gar nicht genau, was in ihrem Netz passiert, weil sie nicht über die notwendige digitale Infrastruktur verfügen. Dies führt zu einer schlechten Auslastung der Netze. Außerdem sind die Geschäftsprozesse nicht digitalisiert. Wer heute eine Netzanfrage stellt, muss oft wochen- oder monatelang warten, weil die Prozesse noch weitgehend manuell laufen oder einzelne Abteilungen z.B. in der Netzplanung völlig überlastet sind. Hier helfen auch keine kürzeren gesetzlichen Auskunftsfristen, denn diese sind schlicht unrealistisch.
VDI: Hinzu kommt die große Zahl an Netzbetreibern. Welche Probleme ergeben sich aus dieser Fragmentierung?
Tim Meyer: Über 860 Netzbetreiber sind einfach viel zu viel. Jeder hat eigene Standards, eigene Systeme, eigene Technik, muss eigene Kompetenz vorhalten und Entscheidungen treffen. Das führt zu einem enormen Overhead – in der Verwaltung, in Planung und Betrieb, in der technischen Umsetzung. Kein Unternehmen würde sich bundesweit so aufstellen. Hier braucht es eine massive Konsolidierung. Aber da die Verteilnetze kommunal organisiert und Teil der Daseinsvorsorge sind, ist das ein politisches Minenfeld.
VDI: Was wäre kurzfristig möglich, um bereits existierende Netzengpässe zu entschärfen?
Tim Meyer: Wir müssen die bestehenden Netze intelligenter nutzen. Hier gibt es durchaus das Potenzial, uns Zeit zu kaufen. Zum Beispiel indem wir viel mehr Speicher einsetzen. Der gezielte Einsatz hilft Lastspitzen zu glätten. Batteriespeicher sind inzwischen günstig und könnten helfen, Engpässe zu vermeiden. Doch bisher werden Speicher oft als Störfaktor betrachtet, weil sie sich nach Strompreisen und nicht nach Netzbedarfen richten. Hier verfolgen Batteriespeicherbetreiber und Netzbetreiber unterschiedliche Ziele. Hier brauchen wir dringend klare Regeln, die Speicher als Teil der Netzstabilisierung ermöglichen.
VDI: Es gibt auch Ideen zur besseren Nutzung der bestehenden Netze.
Tim Meyer: Ja, eine große Chance liegt darin, Netze überzubelegen, indem beispielsweise Solar- und Windanlagen an denselben Netzanschluss gelegt werden. Die aktuelle Regulierung ermöglicht das erst seit Kurzem. Auch solche Maßnahmen erlauben es, mehr Leistung ans Netz zu bringen ohne mehr Kupfer verlegen zu müssen. Gleichzeitig wird dieses Kupfer dann besser ausgelastet. Schließt man mehr Solarleistung an oder zusätzliche Windleistung, kann diese zwar in wenigen Stunden des Jahres mit gleichzeitig höchster Produktion aller Anlagen nicht vom Netz aufgenommen werden. In den meisten Zeiten fließt aber mehr Strom durch diese Betriebsmittel als wären sie genau auf die Leistung einer einzelnen Solaranlage ausgelegt.
VDI: Wie dringend ist der Handlungsbedarf?
Tim Meyer: Wir haben auf der Einspeiseseite bereits Probleme. In manchen Regionen gibt es mehr Erzeugung als das Netz aufnehmen kann. Hier können neue Solar- und Windprojekte deshalb nicht ans Netz angeschlossen werden. Das bremst die Energiewende. Aber auch auf der Verbrauchsseite gibt es Engpässe – beispielsweise, wenn Netzbetreiber lange brauchen, um den Anschluss neuer Wallboxen oder Wärmepumpen freizugeben. Diese strukturellen Probleme müssen dringend angegangen werden. Standardisierung und Digitalisierung bergen hier einen deutlichen Effizienzgewinn.
VDI: Gibt es Zahlen, wie viel sich durch eine bessere Organisation einsparen ließe?
Tim Meyer: Die Forschungslage ist hier überraschend dünn. Es gibt aber Schätzungen, dass durch eine Konsolidierung der Netzbetreiber und durch effizientere Strukturen Milliardenbeträge eingespart werden könnten. Die Bundesnetzagentur sammelt jetzt mehr Daten, um Transparenz zu schaffen. Doch solange jede Kommune ihr eigenes Netz betreiben möchte, bleibt die politische Debatte schwierig.
VDI: Was muss jetzt passieren?
Tim Meyer: Kurzfristig müssen wir den Bestand intelligenter nutzen – wie beschrieben durch bessere Planung, Digitalisierung und Speicherintegration. Langfristig braucht es aber auch eine Reform der Netzorganisation. Sonst drohen weiter hohe Kosten, lange Genehmigungszeiten und ein ineffizientes System. Wir müssen den Verteilnetzen endlich die Aufmerksamkeit geben, die sie verdienen.
Autorin: Gudrun Huneke
Fachlicher Ansprechpartner:
Dr.-Ing. Jochen Theloke
VDI-Gesellschaft Energie und Umwelt
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