Der Kampf gegen Resistenzen und die Entwicklung neuer Wirkstoffe
Nicht erst die aktuelle Corona-Pandemie erinnert uns daran, wie groß die Gefahr durch Infektionskrankheiten ist. Schon seit Längerem wirken viele Antibiotika nicht mehr; und Bakterien entwickeln zunehmend Resistenzen. Die Folgen sind dramatisch: Jedes Jahr sterben in der EU geschätzt 33.000 Menschen an Infektionen mit resistenten Keimen. Weltweit liegt die Zahl der jährlichen Todesfälle bei etwa 500.000.
Aktuelle Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen davon aus, dass die Zahl der Todesopfer bis zum Jahr 2050 auf zehn Millionen pro Jahr steigen könnte, wenn nicht bald große Anstrengungen unternommen werden. Was jetzt konkret getan werden muss, zeigt die neue VDI-Publikation Lebensretter Antibiotika.
„Um mit der Zunahme von Resistenzen Schritt halten zu können, brauchen wir dringend neue Wirkstoffe“, sagt Prof. Dr. Jürgen Hemberger, Vorsitzender des VDI-Fachbeirats Biotechnologie und einer der Autoren der Publikation. „Doch deren Entwicklung ist für die pharmazeutische Industrie aufwendig, kostspielig und nicht so lukrativ wie etwa die Entwicklung von Krebsmedikamenten.“
Tatsächlich hat die Zahl der Neuzulassungen in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen, und viele Pharmaunternehmen sind in den letzten Jahren ganz aus der Antibiotikaforschung ausgestiegen. Dies hat verschiedene Ursachen. Ein Grund ist sicherlich die mangelnde wirtschaftliche Attraktivität: Verglichen mit den hohen Entwicklungskosten sind die Aussichten für die Refinanzierung gering, da neue, gegen multiresistente Keime wirkende Medikamente als sogenannte Reserve-Antibiotika möglichst selten einzusetzen sind.
VDI-Empfehlung 1: neue Antibiotika entwickeln
Ein sehr großer Teil der Produktion von Antibiotikawirkstoffen findet in Indien und China statt. Nicht zuletzt aufgrund der großen Produktionsvolumina und der niedrigeren Lohnkosten sind die Herstellungskosten dort weit geringer als in Europa. Prof. Hemberger: „Es ist allerdings in der jüngeren Vergangenheit – und zwar schon vor der aktuellen Corona-Krise – wiederholt zu Lieferengpässen aus diesen Ländern gekommen. Daher halten wir im VDI es hinsichtlich der Versorgungssicherheit für absolut wünschenswert, wenn die Produzenten zumindest einen Teil der Herstellung, vor allem von besonders wichtigen Ausgangsstoffen, nach Europa zurückverlagern. Dafür sollten aber auch vernünftige Anreize seitens der Politik geschaffen werden.“
Derzeit wird die Erforschung neuer antibiotischer Wirkstoffe ganz wesentlich von kleinen Biotech-Unternehmen sowie der institutionellen und universitären Forschung getrieben. Die Autoren der VDI-Publikation fordern daher einen europäischen Rahmen mit einer geeigneten Forschungsförderungsinfrastruktur, der diese in die Lage versetzt, ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für neue Antibiotika erfolgreich umzusetzen. Sie empfehlen zudem realistische Erstattungsbedingungen und Finanzierungsmechanismen – wie etwa eine Markteintrittsprämie für innovative und wirkungsvolle Antibiotika, die als Reserve-Antibiotika aber möglichst selten eingesetzt und verkauft werden.
VDI-Empfehlung 2: den Einsatz von Antibiotika reduzieren
Durch den unsachgemäßen Einsatz von Antibiotika – beispielsweise bei nicht bakteriellen Infektionen – können sich Antibiotikaresistenzen vermehrt entwickeln und ausbreiten. Über 90 Prozent der Atemwegsinfekte wie Erkältung, akute Bronchitis oder akute Sinusitis sind viraler Natur. Eine antibiotische Behandlung ist in diesen Fällen nicht wirksam, oftmals mit unangenehmen Nebenwirkungen verbunden und bringt zusätzlich die Gefahr der Resistenzausbreitung mit sich.
„Der Einsatz von Antibiotika muss daher sowohl in der Humanmedizin als auch in der Veterinärmedizin auf das medizinisch notwendige Maß reduziert werden“, ist sich Hemberger sicher. „Neben einer besseren Aufklärung der Öffentlichkeit sprechen wir uns im VDI für die Entwicklung von Diagnosetests aus, die eine schnelle Unterscheidung zwischen viralen und bakteriellen Infektionen – möglichst direkt in der Arztpraxis – erlauben und unnötige Antibiotikagaben verhindern.“
VDI-Empfehlung 3: die Ausbreitung von Resistenzen verhindern
Die Ausbreitung von Resistenzen, sowohl in medizinischen Einrichtungen als auch in der Umwelt, müssen deutlich wirkungsvoller als bisher verhindert werden. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Resistenzen in der Regel zuerst in Krankenhäusern auftreten. Sie sind die Brutstätten für die Resistenzentwicklung – wegen des breiten, intensiven Einsatzes von Antibiotika und teilweise auch aufgrund unzureichender Hygiene. Hinzu kommt, dass Abwässer aus Kliniken und anderen medizinischen Einrichtungen hohe Antibiotika-Konzentrationen enthalten. Diese gelangen in die Umwelt und beschleunigen die Resistenzbildung.
„Deutsche Krankenhäuser brauchen höhere Hygiene-Standards“, empfiehlt Prof. Hemberger. „Die skandinavischen Länder zum Beispiel haben strengere Hygiene-Regeln und Hygienebeauftragte, die die konsequente Umsetzung überwachen und den Ärzten weisungsbefugt sind. Dort gibt es viel weniger Probleme mit Resistenzen. Hygienebeauftragte sind in der Regel Ingenieur*innen für Krankenhaushygiene- und/oder Umwelthygiene. Die gibt es auch in deutschen Häusern, aber bei weitem nicht so flächendeckend. Hier haben wir also Nachholbedarf.“
Krankenhaus-Hygiene fängt übrigens schon beim Bau an. Der VDI engagiert sich dafür, dass die technisch-hygienischen Maßnahmen konsequenter umgesetzt werden als bisher – auch mit der Richtlinienreihe VDI 5700. Antimikrobielle Oberflächen auf Arbeitstischen, Displays oder Türklinken, Luft- und Klimaführung mit speziellen Filtern können beispielsweise Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen sinnvoll ergänzen.
Resistente Bakterien und Wirkstoffe gelangen vor allem über das Abwasser kommunaler Kläranlagen sowie über Gülle und Gärreste aus Biogasanlagen in die Umwelt. Ein großes Problem: Denn resistente Keime können sich in der Umwelt vermehren und ihre Resistenzgene auf andere, und für den Menschen gefährliche Krankheitserreger, übertragen. Speziell an den genannten Hotspots müssen geeignete Behandlungsmethoden die Ausbreitung von Resistenzen reduzieren.
Die Autoren der Publikation ‚Lebensretter Antibiotika‘ setzen sich dafür ein, dass vor allem die technische Entwicklung von effizienten Verfahren zur Entfernung von Antibiotika in Kläranlagen, Stallungen und bei Biogasanlagen stärker gefördert wird. Außerdem solle bereits bei der Entwicklung neuer Antibiotika auch deren Abbau in der Umwelt mitgedacht werden. Denn je schneller sich ein Wirkstoff in der Umwelt abbaut, desto geringer ist sein Beitrag zur Verbreitung von Resistenzen.
Autor: Stephan Berends
Ansprechpartner im VDI:
Dr. Martin Follmann
VDI-Fachbereich Biotechnologie
E-Mail-Adresse: follmann@vdi.de
Die Publikation „Lebensretter Antibiotika - Kampf gegen Resistenzen und Entwicklung neuer Wirkstoffe“ steht kostenfrei zum Download bereit.