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ENGINEERS EUROPE

Ingenieurkompetenzen, Image und Fachkräftemangel – eine europäische Perspektive

Bild: G-Stock Studio/Shutterstock.com

Welche Kompetenzen benötigen Ingenieur*innen in Zukunft, insbesondere vor dem Hintergrund der Megatrends Digitalisierung und Dekarbonisierung? Welche Rolle werden fachliche Kompetenzen spielen?  Welches Image genießt der Ingenieurberuf in Europa und was muss angesichts der Herausforderungen getan werden, um mehr Menschen für den Beruf zu begeistern? Im Interview beleuchtet Dirk Bochar, der Generalsekretär unseres Dachverbandes ENGINEERS EUROPE, diese Themen aus europäischer Perspektive, was unseren eigenen nationalen Fokus erweitert. Dirk Bochar sieht dringenden Handlungsbedarf und die einzelnen Ingenieur*innen in der Pflicht, die notwendigen Schritte aktiv mitzugestalten.

"Wir sind auf die aktive Mithilfe der Ingenieur*innen angewiesen“

VDI: Aktuell wird sehr viel darüber gesprochen, wie sich der Ingenieurberuf wandelt. Besonders die Frage des zukünftigen Kompetenzbedarfs von Ingenieur*innen wird breit diskutiert. Was ist Ihre Perspektive auf diese Diskussion?

Dirk Bochar: Wir sehen seit geraumer Zeit im Ingenieurberuf eine Entwicklung. Fachliche Kompetenzen treten nach und nach in den Hintergrund und überfachliche Kompetenzen gewinnen an Bedeutung. Interdisziplinarität, Kommunikation, interkulturelle Kompetenzen und die Fähigkeit zum kritischen Umgang mit Daten sind schon heute sehr wichtig. Dazu kommen vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Dekarbonisierung „digital skills“ sowie eine ganzheitliche Denkweise. Schließlich erfordert die rapide technologische Entwicklung die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen. Dieses Kompetenzportfolio werden Ingenieur*innen zukünftig bedienen müssen.

Welche Aktivitäten unternimmt ENGINEERS EUROPE als europäischer Dachverband der nationalen Ingenieurvereinigungen beim Thema Ingenieurkompetenzen der Zukunft?

ENGINEERS EUROPE hat im September 2022 das von der EU-Kommission im Rahmen von Erasmus+ geförderte Drei-Jahres-Projekt „Engineers for Europe“ (E4E) gestartet. In dem von ENGINEERS EUROPE koordinierten Projekt, in dem der VDI eine von 13 Projektpartnerorganisationen ist, steht die Frage der Ingenieurkompetenzen im Fokus. Zentrales Ziel ist es, einen Prozess der Bedarfserfassung zu etablieren und Anforderungsprofile zu definieren, die dann kontinuierlich angepasst werden. Im September 2023 hat das „European Engineering Skills Council“ seine Arbeit aufgenommen. Dieses Gremium von Expert*innen aus Industrie, Ingenieurausbildung und Verbänden bildet das Herzstück des genannten Prozesses. 

Systeme, in denen es Jahre dauert, Curricula an aktuelle Trends anzupassen, sind zu langsam

Sie haben die schnellen Veränderungen und den kontinuierlichen Weiterbildungsbedarf angesprochen. Wie kann die Ingenieurausbildung da Schritt halten?

Erstmal möchte ich betonen, dass eine gute grundständige fachliche Ausbildung auch in Zukunft die Basis für die Arbeit von Ingenieur*innen bilden wird und bilden muss. Hier haben wir in Europa qualitativ ausgezeichnete Ausbildungssysteme. Dennoch sind Systeme, in denen es Jahre dauert, Curricula an aktuelle Trends anzupassen, zu langsam. Ich sehe daher eine echte Zukunft für kurze und hochgradig fokussierte Schulungskurse. Im Rahmen von Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen vergebene Microcredentials für bereits qualifizierte und beruflich tätige Ingenieur*innen sind nach meiner Ansicht Teil der Lösung, um der Herausforderung zu begegnen.

Offener für Vielfalt werden und durchlässigere Bildungssysteme schaffen

Welche Möglichkeiten sehen Sie, um dem aktuellen allgemeinen Engpass im Ingenieurberuf zu begegnen?

In der Tat sehen wir den Engpass überall in Europa. Meiner Meinung nach müssen wir die Diversität im Ingenieurberuf deutlich erhöhen. Ein wichtiger Mosaikstein ist hier sicher die Fachkräftezuwanderung aus Drittstaaten außerhalb der EU. Zusätzlich müssen unterrepräsentierte Gruppen - zum Beispiel Frauen - stärker für den Beruf begeistert werden. Außerdem müssen wir mehr jungen Menschen aus sozio-ökonomisch herausfordernden Verhältnissen den Bildungsaufstieg ermöglichen. Das Ingenieurstudium in Deutschland war beispielsweise immer ein „Aufsteigerstudium“. Mein Fazit: Wir müssen als Gesellschaften insgesamt offener für Vielfalt werden und das muss sich in durchlässigeren Bildungssystemen widerspiegeln. Große Teile des Nachwuchses mit schlechter Bildung und schlechten Aufstiegschancen zurückzulassen, können wir uns nicht leisten, wenn wir unsere Wirtschafts- und Innovationskraft und damit unseren Wohlstand erhalten wollen. Wir stehen schließlich auch in Konkurrenz, zum Beispiel mit China und den USA. 

Ingenieur*innen leisten hinter den Kulissen eine effiziente Arbeit

Kommen wir zum Thema „Image“. Ingenieur*innen beklagen oft, dass ihre Bedeutung für das Funktionieren unserer Wirtschaft und Gesellschaft zu wenig gesehen wird. Wie sehen Sie das?

Ich stelle fest, dass die Ingenieur-Community seit Jahrzehnten bestrebt ist, das Image des Berufsstandes zu verbessern. Was das Ansehen des Berufs betrifft, so hat eine im Rahmen des von der EU-Kommission geförderten Projekts mit dem Namen „Engineers for Europe“ (E4E) durchgeführte Umfrage ergeben, dass mehr als 80 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass dieses Image positiv ist und Ingenieur*innen in der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen genießen. Allerdings besteht nach wie vor eine Wissenslücke über den Beruf. So wissen viele Menschen gar nicht, wie Ingenieur*innen ihren Alltag beeinflussen. Mein Eindruck ist zudem, dass Ingenieur*innen nur dann viel Aufmerksamkeit in den Medien erhalten, wenn technische Lösungen nicht funktionieren oder sich Katastrophen ereignen. Hier tun die Ingenieur*innen oft selbst nicht genug, um die Öffentlichkeit aufzuklären. Es liegt nach meiner Wahrnehmung nicht in ihrer Natur. Sie ziehen es vor, still und unauffällig hinter den Kulissen eine effiziente Arbeit zu leisten.

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"Der Mehrwert einer europäischen Perspektive ist die Vielfalt"

Was würden Sie sich hier von den Ingenieur*innen wünschen?

Nach meiner Einschätzung liegt es in den Händen der Ingenieur*innen, am eigenen Image mitzuwirken. Wir sehen, dass viele andere Berufsstände politisch weitaus aktiver und besser vernetzt sind, Das schafft Wahrnehmung und Sichtbarkeit und ermöglich gleichzeitig die Beteiligung an politischen Entscheidungsfindungen. Wir als Dachverband und unsere nationalen Mitgliedsorganisationen sind hier bereits gut unterwegs, aber wir sind auf die aktive Mithilfe der Ingenieur*innen angewiesen. So halte ich es zum Beispiel für wichtig, mehr Ingenieur*innen in politische Entscheidungsgremien zu bringen.

Was ist aus Ihrer Sicht der Mehrwert einer europäischen Perspektive in Ergänzung zum nationalen Fokus Ihrer Mitgliedsorganisationen?

Wir alle haben die Eigenschaft, uns zuerst mit unserem direkten Umfeld zu beschäftigen. Der Mehrwert einer europäischen Perspektive ist die Vielfalt. Vielfalt der Lösungsansätze auf gleiche oder ähnliche Herausforderungen, Vielfalt der Herangehensweise, Vielfalt der Kulturen. Wir denken meist, dass unser Weg der beste sei. Tatsächlich birgt aber der Blick nach links und rechts die Chance, etwas Neues zu lernen. Diese Fähigkeit, sich in der Zusammenarbeit mit anderen immer neu zu erfinden, sich weiterzuentwickeln und Herausforderungen zu meistern, macht für mich den Kern des Ingenieurwesens und den Kern Europas aus.

Das Interview führte Dr. Thomas Kiefer

Ansprechpartner im VDI
Dr. Thomas Kiefer
kiefer@vdi.de​​​​​​​

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