„Gar nicht so einfach, digitalen Unterricht zu machen“
Verwaiste Hörsäle, leere Forschungsinstitute, Umstellung auf Online-Veranstaltungen und Homeoffice: Welche Herausforderungen und Auswirkungen bringt die Corona-Krise deutschen Hochschulen, der Forschung und Wissenschaft? Ein Gespräch mit Prof. Dr.-Ing. Heinz Voggenreiter, Direktor des DLR-Instituts für Werkstoffforschung sowie Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats beim VDI.
Herr Voggenreiter, neben Ihrer Haupttätigkeit als Direktor des DLR-Instituts für Werkstoffforschung sind Sie Professor an der Universität Stuttgart. Viele Hochschulen setzen im Rahmen der Corona-Krise auf die Digitalisierung der Lehre. Was stellt Ihrer Meinung nach hierbei die größte Herausforderung dar?
Voggenreiter: Die technische und pädagogische Übertragung von Lehrinhalten in digitale Formate ist aufwendig. Da müssen wir Lehrenden momentan vieles ausprobieren. Manche Hochschullehrenden zeichnen ihre Vorlesungen schon seit längerer Zeit auf und digitalisieren sie. Aber das ist nicht die Mehrheit. Persönlich bevorzuge ich ein interaktives Lehrkonzept. Das ist nicht so leicht ins digitale Format zu übersetzen, denn manche Studierenden können wegen einer schwachen Internetverbindung bei Videokonferenzen nur begrenzt mitmachen. Leider bleiben direktes Feedback und die persönliche Betreuung der Studierenden dabei etwas auf der Strecke. Wegen der ausbaufähigen technischen Infrastruktur in Deutschland ist es also gar nicht so einfach, digitalen Unterricht zu machen.
Welche Probleme birgt die aktuelle Situation besonders für Wissenschaftler?
Voggenreiter: Digitale Kommunikationstools und Homeoffice sind zunächst eine gute Sache, vorausgesetzt man hat eine stabile Internetverbindung. Doch mit der Zeit wird deutlich, dass selbst mit Videokonferenzen im Homeoffice sehr viel Kontext wegbricht: von der Körpersprache bis zum gewohnten Arbeitsumfeld und Ritualen, wie der Kaffeepause mit Kolleg*innen. Das kann Menschen verunsichern und auf Dauer sogar ineffizient machen. Gerade wir Wissenschaftler leben davon, Dinge in einen Kontext zu stellen.
Die größte Einschränkung: geschlossene Laboreinrichtungen
Wie stark wirkt sich die Corona-Krise auf den Betrieb an Forschungseinrichtungen aus?
Voggenreiter: Beim DLR haben wir die Vorort-Aktivitäten schnell auf Minimalbetrieb heruntergefahren. Grundsätzlich bleiben wir dennoch handlungsfähig. Ähnliches gilt sicher für die meisten anderen Forschungseinrichtungen. Die größte Einschränkung ist die Nicht-Verfügbarkeit von Laboreinrichtungen für die wissenschaftliche Arbeit. Selbst wenn die Betroffenen die Zeit mit theoretischen Arbeiten überbrücken, müssen diese durch praktische Experimente und Simulationen bestätigt werden. Deshalb ist es für die Forschung wichtig, dass wir schnell wieder zurück in die Labore kehren können.
Viele Unternehmen sind stark von den Auswirkungen der Pandemie betroffen und auf Hilfen von Bund und Ländern angewiesen. Welche Folgen könnte das für die Finanzierung und Förderung der Forschung haben?
Voggenreiter: Unsere Grundfinanzierung ist vorerst gesetzt. Besonders in der angewandten Forschung wird es im Drittmittelbereich jedoch bestimmt eine Phasenverschiebung geben. Im Moment spüren wir da noch keine Auswirkungen. Aber wir sind im Dialog mit Unternehmen, die langsam auf Liquiditätsprobleme stoßen und ihren Eigenanteil an gemeinschaftlichen Forschungsprojekten bald nicht mehr tragen können. Wenn Firmen ihre Belegschaften in Kurzarbeit schicken müssen, dann bleiben für Forschung und Entwicklung kaum Ressourcen.
Teile der globalisierten Wertschöpfungsketten wieder zurück nach Deutschland holen
Was wären mögliche Lösungen angesichts dieser Entwicklung?
Voggenreiter: Die Förderrahmenbedingungen sollten rechtzeitig angepasst werden. Eine Lösung wäre festzulegen, dass Unternehmen nicht unbedingt aktive Partner bei Forschungsprojekten sein müssen. Dann könnten sie sich als assoziierte Partner lediglich bei der Projektplanung und -auswertung einbringen und die wesentliche Arbeit den wissenschaftlichen Partnern überlassen. So könnten Firmen weiter an der Forschung teilhaben und Ergebnisse nutzen. Folglich würde sich das Wechselspiel zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen, anwendungsorientierten Universitäten und Unternehmen intensivieren – nicht nur jetzt, sondern auch in zukünftigen Projekten. Es gibt sehr viele Themen, die wir gemeinsam mit Unternehmen bearbeiten können.
Also tun sich infolge der Corona-Krise sogar neue Chancen für Forschung und Entwicklung auf?
Voggenreiter: Ähnlich wie nach der Finanzkrise 2008 wird es jetzt sicherlich einen Trend dazu geben, Teile der globalisierten Wertschöpfungsketten wieder zurück nach Deutschland zu holen. Das wird nur bei einer gleichzeitigen Erhöhung der Automatisierung möglich sein, da sonst die Kosten einfach zu hoch wären. An diesem Punkt müssen Forschung und Industrie gemeinsam Lösungen finden. Etwa bei der Verbesserung von robotischen Fähigkeiten durch neue Methoden. Sowohl für Industrie als auch wissenschaftliche Einrichtungen tun sich da völlig neue Chancen auf. Dies sehe ich als positives Element, wenn ich über die Corona-Krise hinausschaue.
„Die Krise drängt uns stärker in die digitale Welt“
Das ist eine sehr optimistische Sichtweise …
Voggenreiter: Ohne Optimismus geht es nicht – schon gar nicht in der Forschung.
Es gibt trotzdem Befürchtungen, dass bestimmte Bereiche wie die medizinische Forschung im Zuge der Corona-Krise stark profitieren und dafür andere Forschungsdisziplinen vernachlässigt werden könnten. Wie denken Sie darüber?
Voggenreiter: Da sehe ich keine Gefahr. Manche Forschungsbereiche werden wie gewohnt weitermachen und andere werden einfach aktuell verstärkt gebraucht. Die Impfstoffforschung erlebt durch die Corona-Krise einen Schub an Aktivitäten und wird deshalb stärker gefördert. Auch die Forschung und Entwicklung zu den Themen globale Lieferketten, Automation, Künstliche Intelligenz und Digitalisierung sollten in diesem Zuge stärker als bisher unterstützt werden.
Welche Lehren ziehen Sie aus der Corona-Krise für die Zukunft?
Voggenreiter: Die Krise drängt uns stärker in die digitale Welt und zeigt uns sowohl Grenzen als auch Möglichkeiten. Sie lehrt uns, dass wir besser auf solche Situationen vorbereitet sein könnten, etwa durch die Schaffung adäquater Infrastrukturen. Ich wünsche mir, dass zukünftig stärker in den Ausbau und die Entwicklung der notwendigen Infrastrukturen und Tools investiert wird. Das Virus zeigt uns, wo unsere Chancen liegen, und es wäre fatal, wenn wir diese nicht nutzen.
Interview: Sonja Bosso