Funktioniert nachhaltige Kreislaufwirtschaft ohne den Digitalen Produktpass?
Neben der Optimierung unserer Wertschöpfungsketten und der Umstellung auf nachwachsende Rohstoffe ist der (Wieder-)Aufbau einer Kreislaufwirtschaft der entscheidende Hebel. Im Rahmen des „Green Deal“ hat die EU einen „Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft“ erstellt und 2022 einen Entwurf der „Ökodesign-Verordnung für nachhaltige Produkte“ veröffentlicht. Hier sind Anforderungen an das Design und die Herstellung von nachhaltigen Produkten formuliert. Ein zentrales Element dieser Verordnung ist der „Digitale Produktpass“ (DPP), in dem für alle in der Wertschöpfungskette Beteiligten – auch für den Endkunden – verständliche Informationen und Merkmale zur Nachhaltigkeit der Produkte bereitgestellt werden sollen.
Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft
Daher bleibt die Frage, wie wettbewerbsfähige Geschäftsmodelle für die nachhaltige Kreislaufwirtschaft entwickelt werden können und welche Informationsinfrastruktur dafür notwendig ist. Diese Fragen wurden in dem branchenübergreifenden Gremium IGDT von Expertinnen und Experten aus Industrie und Hochschule diskutiert – mit zum Teil überraschenden Ergebnissen.
Betrachten wir zunächst die Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft im Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit. Derzeit laufen viele Pilotprojekte für die „Circular Industry“, angefangen vom „Reuse“, „Repair“, „Remanufacture“ , physikalisch/chemischem Recycling z.B. von Kunststoffen oder die Pyrolyse von kohlenstoffhaltigen Produkten, z.B. Altreifen, bis hin zur CO2 -Rückgewinnung aus Abgas oder sogar Luft und der Umsetzung dieses CO2 mit Wasserstoff aus der mit nachhaltigem Strom betriebenen Elektrolyse zu Grundchemikalien, z.B. Methanol, oder synthetischen Kraftstoffen, insbesondere für synthetische Kraftstoffe für Flugzeuge.
Analysiert man die Pilotprojekte im Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit, so sind neben der Produktqualität der zurückgeführten Produkte drei Faktoren relevant:
- Investitionsbedarf und Prozesseffizienz
- Kosten für nachhaltige Energie, insbesondere Strom und dessen Verfügbarkeit
- CO2-Preis
Es braucht Lösungen damit EU auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig bleibt
Bezüglich der Optimierung des Investitionsbedarfs und der Effizienz der Prozesse sind die Industrie und natürlich Hochschulen mit ihren Entwicklungs- und Forschungsgruppen gefragt. Sie scheinen die die Herausforderung durch die o.g. drei Faktoren angenommen zu haben. Der Auftragseingang des Großanlagenbaus liegt auf einem langjährigen Höchststand. Laut VDMA hat „der Einsatz innovativer Technologien in der Projektabwicklung sowie die strategische Ausrichtung der Unternehmen auf neue Märkte und klimaschonende Technologien (...) wesentlich zu diesem Wachstum beigetragen“ (VDMA 2024).
Die Hemmschwelle zur Umsetzung dieser klimaschonenden Technologien liegt zumindest in Deutschland bei den im internationalen Vergleich zu hohen Strompreisen. Bei den Preisen für nachhaltigen Strom muss Deutschland schnell auf ein Weltmarktniveau kommen – und die Gesamtmenge nachhaltig erzeugten Stroms müssen deutlich steigen. Für nachhaltige Energien in Form von grünem Wasserstoff, Ammoniak oder Methanol wird Deutschland auf Import angewiesen sein. Unsere Wirtschaft muss sich die globalen Quellen dafür sichern oder selbst dort investieren, wo insbesondere Strom aus Sonnenenergie wirtschaftlicher zu erzeugen ist.
Bezüglich des CO2-Preises befinden wir uns in einem Dilemma. Der aktuelle CO2-Preis mit ca. 50€/t CO2 spiegelt bei weitem nicht die hohen Folgekosten der Klimaerwärmung wider. Auf der anderen Seite würde eine einseitige, drastische CO2-Preis-Erhöhung in der EU dazu führen, dass Produkte und Dienstleistungen aus der EU am Weltmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
Neue Datenstruktur würde der Kreislaufwirtschaft helfen - aber ist nicht zwingend notwendig
Am Schluss bleibt die Frage, ob eine neue Dateninfrastruktur wie Manufacturing X und der digitale Produktpass zum Aufbau einer Kreislaufwirtschaft zwingend gebraucht werden. Die Antwort des IGDT heißt „nicht zwingend“. Dennoch würde eine Dateninfrastruktur helfen, die gesamte Wertschöpfungskette inklusive der Kreislaufwirtschaft zu steuern und zu optimieren.
Die heutige Wertschöpfung, im Gegensatz zur Kreislaufwirtschaft auch als lineare Wirtschaft bezeichnet, funktioniert auch ohne einen Digitalen Produktpass. Die industrielle Wertschöpfung findet hauptsächlich arbeitsteilig statt. Das Zusammenspiel zwischen Herstellern und Zulieferern beschränkt sich dabei nicht nur auf die Versorgung mit Rohstoffen, Einzelkomponenten oder Dienstleistungen, sondern auch Daten und Informationen werden ausgetauscht. So benötigt beispielsweise die Produktentwicklung Werkstoffdatenblätter oder produktbeschreibende Daten von Einzelkomponenten, um bei Produktauslegungen die erforderlichen Entscheidungen treffen zu können. Die bilaterale Datenbereitstellung und Verteilung erfolgen heute bereits überwiegend digital. Welche Daten wie ausgetauscht werden, ist heute in Teilen standardisiert, richtet sich jedoch nach den Bedürfnissen von Hersteller und Lieferant. Der bilaterale Datenaustausch basiert auf Vertraulichkeit und Vertrauen in die Qualität der Daten. Folgt die ganze Wertschöpfungskette diesem Prinzip, benötigt man nur die Daten des direkten Vorlieferanten, aber nicht die Daten über die gesamte Wertschöpfungskette. Dieses gilt auch für Information zur Nachhaltigkeit der Produkte, etwa dem CO2-Footprint.
Das gleiche Prinzip gilt auch für die Kreislaufwirtschaft. Auch dort werden beispielsweise in der Produktentwicklung Werkstoffeigenschaften benötigt, die verbindlich nur der direkte Lieferant bereitstellen kann. Liegen verlässliche Daten über ein Produkt vor, kann beispielsweise der CO2-Footprint des recycelten Produkts und damit der CO2-Vorteil gegenüber einer Neukomponente ermittelt werden.
„Warten“ auf den Digitalen Produktpass ist nicht notwendig
Allerdings benötigt man für das effiziente Wiederverwendung oder Recycling von Autos, Maschinen, Komponenten etc., die sich aus mehreren Bauteilen zusammensetzen, neben dem Material und den Gewichten – d.h. Informationen, die üblicherweise vorhanden sind – den CO2-Footprint jedes einzelnen Bauteils. Diese Informationen müssen demzufolge über die gesamte Wertschöpfungskette weitergegeben werden.
Insofern funktioniert die Informationsweitergabe heute schon über die Wertschöpfungskette, aber immer nur von Stufe zu Stufe. Es fehlt, dass z.B. der CO2-Footprint konsequent von den Vorlieferanten eingefordert und damit über die Wertschöpfungskette weitergegeben. Außerdem wird der CO2-Footprint für die Auswahl des Vorprodukts als Entscheidungskriterium nicht berücksichtigt. Ein „Warten“ auf die schöne neue Dateninfrastruktur oder den Digitalen Produktpass ist nicht notwendig, und das Fehlen wird gern als Vorwand verwendet, Nachhaltigkeitskriterien noch nicht in den Geschäftsprozessen zu berücksichtigen. Würden wir das konsequenter tun, würden sich Kreislaufprozesse evolutionär schneller entwickeln.
Sollte politisch an der Idee festgehalten werden, dass Daten im Digitalen Produktpass öffentlich verfügbar sein sollen, müssen Hersteller Abwägungen zur Preisgabe wettbewerbsrelevanter Inhalte treffen, da sich sonst keine vorteilhafte Wettbewerbsposition für Unternehmen erschließen kann. Aus dieser Perspektive relativiert sich sonst der Nutzen des Digitalen Produktpasses für die Wirtschaft und insbesondere für die Kreislaufwirtschaft und kann eher zu einer Behinderung des Ausbaus der Kreislaufwirtschaft führen.
Autoren: Wilhelm Otten, Frank Mantwill, Markus Rabe (Mitglieder des Interdisziplinären Gremiums Digitale Transformation des VDI)
Weitere Artikel des Interdisziplinären Gremium Digitale Transformation
Das „Interdisziplinäre Gremium Digitale Transformation“ (IGDT) im VDI befasst sich mit gesellschaftlich relevanten, branchenübergreifenden Fragen der Digitalisierung. Die aktuell diskutierte Frage lautet, wie die Digitalisierung die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft unterstützen kann. Dazu hatte das IGDT im Februar 2023 den Grundsatzartikel „Nachhaltigkeit in der Industrie“ (Digitalisierung schafft Transparenz für die Kreislaufwirtschaft | VDI) veröffentlicht, welches aufzeigt, wo und wie die Digitalisierung einen Beitrag leisten kann.
In der Veröffentlichung „Mit dem Digitalen Produktpass zur Kreislaufwirtschaft“ (Der Digitale Produktpass - ein Baustein der Kreislaufwirtschaft | VDI) vom 31.10.2023 hat das IGDT offene Fragestellungen und Themenfelder im Zusammenhang mit der Ökodesign-Verordnung und dem digitalen Produktpass identifiziert. Ohne Lösungen in diesen Feldern zu entwickeln, wird der digitale Produktpass keine Wirkung entfalten und keinen Beitrag zum Aufbau einen nachhaltigen Kreislaufwirtschaft leisten. Diese Themenfelder sind:
- Ein auf Basis der ökologischen Transparenz verändertes Kundenverhalten
- Der Aufbau von firmenübergreifenden, nachhaltigen, kreislauforientierten Geschäftsmodellen über den gesamten Produktlebenszyklus in der Industrie
- Der Aufbau einer branchenübergreifenden Informations-Infrastruktur basierend auf herstellerunabhängigen Standards
Das IGDT hat zu diesen Themenfeldern Lösungsansätze entwickelt und diskutiert. Im ersten Teil „Transparenz als Chance für nachhaltige Geschäftsmodelle“ (Transparenz als Chance für nachhaltige Geschäftsmodelle | VDI), in dem die Aspekte des Kundenverhaltens beleuchtet wurden, ergab sich, dass schlussendlich der Endkunde immer ökonomische Betrachtungen anstellen wird. Die Produkte und Dienstleistungen dürfen daher nur in Grenzen teurer sein als nicht nachhaltige Produkte.
Fachlicher Ansprechpartner
Dipl.-Ing. Dieter Westerkamp
Bereichsleiter Technik und Gesellschaft
E-Mail: westerkamp@vdi.de