Eine Reise nach AGILien
Organisatorische Veränderungen in Unternehmen werden oft mit der Metapher einer Reise umschrieben. Wir, der VDI-Fachausschuss 710 „Agile Entwicklung mechatronischer Produkte”, wagen daher in unserem Reiseführer einen etwas anderen Blick auf das sagenumwobene Land „AGILien“ und umreis(s)en so die „Entwicklung mechatronischer Produkte”. Erfahre, was es vor und während des Weges wie auch am Ziel alles zu beachten, entdecken und erreichen gibt.
Warum sollte ich meine Reise vorbereiten?
Eins ist sicher: Eine Reise nach AGILien ist keine Pauschalreise. Sie ist eine sehr individuelle Reise, deren Verlauf nicht detailliert vorausgeplant werden kann und für jede Organisation anders verläuft. Wie gut das Ziel der Reise erreicht wird, hängt in großem Maße davon ab, ob die Reise gut oder schlecht vorbereitet ist.
Nicht nur für das Reisen, sondern auch bei der Entwicklung von Produkten jeder Art sind Checklisten ein sehr beliebtes Mittel, die Planung anzugehen, um ja nichts Wichtiges zu vergessen. Aber Reisevorbereitungen sind so individuell wie die Reisen und vor allem auch die Reisenden selbst. Das gilt auch für die Reise nach AGILien. DIE beste Reisevorbereitung und eine „one fits all” Checkliste kann es also nicht geben. Da die Wiederkehr zum Status Quo darüber hinaus sogar weder geplant noch gewollt ist, wird zudem nicht nur temporäres Gepäck benötigt, sondern individuelles Rüstzeug fürs Auswandern.
Kenne die Effekte, die du mit der Reise nach AGILien erzielen kannst
Erwartungen und erzielte Effekte des agilen Arbeitens in der Entwicklung von Produkten mit physischen Anteilen liegen in der Praxis oft weit auseinander. Seit circa 2010 befinden wir uns in der „Selling und Scaling Epoche“ von AGIlien. In dieser Epoche wurde das agile Vorgehen aus der ursprünglichen Domäne der reinen Softwareentwicklung auf weitere Domänen, wie der der Entwicklung mechatronischer Systeme, übertragen.
Überzogene Erwartungen und „Mythen über AGILien” etablierten sich insbesondere zu Beginn der Ausweitung auf neue Domänen außerhalb der Softwareentwicklung. Diese halten sich jedoch zum Teil bis heute hartnäckig und werden weiterhin verbreitet. Zu den in der Praxis verbreitetsten agilen Mythen zählen beispielsweise Aussagen wie:
- Die Agile Transformation löst Probleme aller Art und das sofort.
- Agile Teams sind grundsätzlich schneller und durch den Einsatz agiler Methoden günstiger.
- Die Einführung von agilen Methoden und IT-Werkzeugen reicht aus, um eine agile Transformation umzusetzen.
- Nach einer agilen Transformation muss jeder im Unternehmen agil sein und das gut finden.
- Agile Arbeitsweisen widersprechen den etablierten Vorgehensweisen der VDI 2221.
Setze dich mit den Werten und der Kultur deines Unternehmens auseinander
Andere Länder andere Sitten: Reisen haben oftmals auch etwas mit anderen Kulturen zu tun. Das gilt auch für AGILien. Wer wirklich etwas anderes (er)leben möchte, darf am Zielort nicht nur weiter seinen altbekannten Gepflogenheiten nachgehen. Nur in agilen Methoden- und Tool-Landschaften zu wandeln, ohne sich auch mit Kultur auseinanderzusetzen, ist wie eine Fernreise nur in der eigenen Reisegruppe in einer all-inclusive Ferienanlage zu verbringen. Damit bleibt das wahre Wesen eines Landes verborgen. Um die Vorteile agiler Produktentwicklung im eigenen Unternehmen realisieren zu können, ist eine intensive Auseinandersetzung mit der aktuellen Unternehmenskultur notwendig und die Bereitschaft, diese zu verändern.
"Kultur ist in der Lage, Irrsinn unsichtbar zu machen und das Irrsinnige logisch erscheinen zu lassen" (Pfläging und Hermann 2019). Unternehmenskultur ist dabei stets wechselseitig – sowohl beeinflussend auf bzw. beeinflusst durch das Verhalten der Unternehmensmitglieder.
Für agiles Arbeiten bilden die vier Werte und zwölf Prinzipien des agilen Manifests die Basis zur Veränderung der Unternehmenskultur. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem agilen Manifest ist deshalb für die agile Transformation essenziell. Aufgrund der immensen Bedeutung der agilen Kultur widmen wir dieser Thematik noch ein eigenes Kapitel in unserem Reiseführer.
Kenne das Ziel deiner Reise, aber plane sie am besten von Etappe zu Etappe
Vor Beginn der Reise ist es sinnvoll festzustellen, wo der aktuelle Startpunkt liegt, und warum du “agil(er)” werden möchtest. Um überzogene oder gänzlich falsche Erwartungshaltung gegenüber dem agilen Arbeiten zu vermeiden und erste agile Ansätze nicht zu gefährden, sollte die Auseinandersetzung mit den tatsächlich erzielbaren Effekten und der Kultur bereits erfolgt sein. Basierend auf dieser Auseinandersetzung können realistische unternehmens- und bereichsspezifische Ziele abgeleitet werden.
Die Einführung von Agilität sollte als kontinuierlicher und iterativer Prozess verstanden werden. Neue Praktiken können in kleinen Schritten eingeführt, ausprobiert, reflektiert und weiterentwickelt werden. So wird sichergestellt, dass im Unternehmen vorhandenes Produkt- und Prozesswissen auch in der Anwendung agiler Arbeitsweisen genutzt wird. Der Versuch im gesamten Unternehmen auf einmal “agiles Arbeiten auszurollen" und sämtliche Erfahrungswerte und bestehende Praktiken zurückzulassen, führt genauso regelmäßig zu Misserfolgen, wie der Versuch agile Praktiken ohne Änderung der Unternehmenskultur einzuführen.
Schaffe eine gute Ausgangslage für deine Reise!
Vor Beginn jeder Reise steht das “Kofferpacken” – eine unbeliebte, aber zwingend notwendige Reisevorbereitung. Auch für AGILien gilt: Packe deinen Koffer sorgfältig und bedenke, was du für die erste(n) Etappen deiner Reise benötigst. Beim Kofferpacken und auch bei allen weiteren Vorbereitungen ist ein erfahrener Reiseführer (Agiler Coach) hilfreich.
Für die Reise nach AGILien sollten insbesondere die Verfügbarkeit von Personal, Zeit und Infrastruktur bedacht werden. Das Personal stellt in den menschenzentrierten agilen Entwicklungsprozessen den wichtigsten Erfolgsfaktor dar. Der interdisziplinären Teamzusammensetzung kommt eine besonders wichtige Rolle zu, damit ein Team die anstehenden Aufgaben eigenständig lösen kann. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass echtes agiles Arbeiten gut qualifizierte und erfahrene Mitarbeiter voraussetzt.
Die Übertragung von Entscheidungskompetenzen und Verantwortung ist ebenfalls vorab zu bedenken. Anstelle die Entscheidungen den Menschen mit der größten hierarchischen Macht zu überlassen, müssen sie zukünftig durch die Menschen mit der größten fachlichen Kompetenz getroffen werden können. Dies geht mit einer Übertragung der Verantwortung einher.
Die Bereitstellung der benötigten personellen, zeitlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen sollte vor Reisebeginn bedacht werden, um nicht bereits auf dem Hinflug in Turbulenzen zu geraten und den Workflow sowie die Motivation der Reisenden ins Stocken zu bringen.
Teile Deine Erfahrungen!
Hast auch Du Dich schon auf die Reise nach AGILien begeben? Und vielleicht beim Kofferpacken etwas vergessen? Oder bist Du mit Übergepäck gestartet? Teile Deine Reiseerfahrungen mit uns über gpp@vdi.de.
Interessant?
Lies mehr über die Reise nach AGILien des Fachausschusses 710 „agile Entwicklung mechatronischer Produkte“ im Mitgliederbereich. Noch kein VDI-Mitglied? Dann erfährst Du hier, warum es sich lohnt!
Fachliche Ansprechpartnerin:
Dr.-Ing. Daniela Hein
Geschäftsführerin VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung
E-Mail: hein@vdi.de