Ein stürmisches Drängen nach Reformen - Der VDI im Umbruch
Umbruchstimmung. Davon war vor 50 Jahren die gesamte Republik betroffen – und auch der VDI. Begleitet von heftigen Debatten etablierte der Verein neue Leitlinien und Strukturen, die den VDI bis heute prägen. Vorangegangen war den Reformen ein wenig schmeichelhaftes Urteil der jüngeren Mitglieder. Sie betrachteten den VDI als "Altherren-Verein". Sie wollten mehr Einfluss.
Auch der Koordinator der technisch-wissenschaftlichen Arbeit, Heinrich Toeller, war unzufrieden. Die Struktur der Fachgesellschaften verhinderte eine schnelle Reaktion auf den dramatischen technischen Wandel. Es drohte eine Lähmung der Vereinsarbeit. Toeller nahm sich vor, den VDI zu reformieren. Unterstützt wurde der "Kurator", wie der VDI seinen technisch-wissenschaftlichen Koordinator bis 1991 nannte, vom kurz zuvor eingestellten VDI-Direktor Reinhard Menger und dem Vorsitzenden des VDI, Walter Ludewig.
"Organisatorische Mammutaufgabe" vs. "heftige Gegenreaktionen"
Die drei Herren, die zwischen 1969 und 1971 ihre Aufgabenbereiche übernahmen, verloren keine Zeit. Es war eine organisatorische Mammutaufgabe. Nicht alle VDI-Mitglieder teilten den Reformeifer. Als Walter Ludewig dann 1974 mit einer Lobrede verabschiedet wurde, hinterließ er einen VDI, der noch immer im Umbruch war. Das "mehr oder weniger stürmische Drängen und Streben nach Reformen", bekam Ludewig in seiner Abschiedsrede etwas spöttisch zu hören, habe auch vor dem VDI "nicht haltgemacht". Stürmisch traf es gut. Die Reformen sorgten für Spannungen und zogen sich über Jahre hin. Sie führten zu "heftigen Gegenreaktionen". Am 3. Dezember 1974, vor genau 50 Jahren, konnten die Reformer einen Erfolg verbuchen. An diesem Tag beschloss die Versammlung des Vorstandsrates eine weitreichende Satzungsänderung. Sie definierte die Zusammensetzung des Präsidiums und der Organe neu. Und sie prägt den Verein bis heute.
Den meisten Mitgliedern des VDI dürfte dieses Jubiläum kaum bewusst sein. Eine große Organisation arbeitet wie selbstverständlich in den Strukturen, die sie sich einmal verpasst hat. Dabei wird schnell vergessen, wie oft sich Organisationen verändern. Bereiche werden neu gegründet, aufgelöst, zusammengelegt. Mit dem Streben nach organisatorischer Effizienz allein lassen sich diese Veränderungen nicht erklären. Auch die Gründe für die Reformen der 1970er Jahre waren vielfältig. Dem VDI ging es um ein neues Selbstverständnis. Die neuen Strukturen sollten Ausdruck eines modernen und sozial-integrativen Ingenieurvereins sein. Die Satzungsänderung im Dezember 1974 war ein wichtiger Baustein dieses Reformprozesses.
Reformen gegen die Technikfeindlichkeit
Konkret waren es vor allem zwei Gründe, die das Streben nach Reformen erklären. Der erste Grund war wirtschaftlich-technischer Art. Der VDI hatte auf die wegweisenden Innovationen des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre mit der Gründung zahlreicher Fachgruppen reagiert (bspw. Luft- und Raumfahrttechnik, Feinwerktechnik, Messtechnik). Seit 1930 hatte sich die Zahl der Fachgliederungen des Vereins mehr als verdoppelt. Toeller glaubte, dass der VDI mit der aufwendigen Gründung immer weiterer Bereiche bei den neuen Technologien den Anschluss verpassen musste. Ihm schwebten einige wenige, dafür aber integrative "VDI-Gesellschaften" vor, die "neue Fachgebiete nach der Art eines offenen Systems" auffangen sollten. Diese Gesellschaften, deren Ursprung in der Abbildung zu sehen ist, sind zur Basis der technisch-wissenschaftliche Arbeit des VDI geworden.
Der zweite Grund war gesellschaftlicher Natur. Der VDI verstand sich auch schon vor 50 Jahren als "Sprecher der Technik". Diese Funktion schien umso bedeutsamer als sich die Ingenieurinnen und Ingenieure mit einer zunehmend verbreiteten "Technikfeindlichkeit" konfrontiert sahen. Viele Mitglieder empfanden die Fähigkeit des "Altherren-Vereins", sich in die gesellschaftlichen Debatten der 1960er Jahre einzubringen, als unzureichend. Die Reformer wollten den Einfluss der Mitglieder auf das Vereinsleben stärken und den VDI auf diese Weise enger mit den gesellschaftlichen Entwicklungen verbinden. Die 1974 beschlossene Satzungsänderung trug dem Rechnung: Sie gestaltete das Präsidium so, dass dort alle Bereiche des VDI durch die Vorsitzenden ihrer Beiräte Sitz und Stimme erhielten. Bereits 1970 hatte der Vorstandsrat einen gesellschaftspolitischen Ausschuss ins Leben gerufen. Er sollte sich mit den "Wechselwirkungen zwischen Technik und Gesellschaft" beschäftigen und Leistungsangebote für die persönlichen Mitglieder erarbeiten. Die 1973 neu gegründete Hauptgruppe "Der Ingenieur in Beruf und Gesellschaft" baute ihren Einfluss massiv aus. Die Förderung der technischen Wissenschaft und Bildung war damit erstmals klar als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert.
Auch nach den Reformen der 1970er Jahre veränderte sich der VDI organisatorisch. Auch hier waren die Gründe vielfältig. Der Umfang der Reformen vor 50 Jahren war jedoch einmalig. Und ihr Einfluss prägte den VDI nachhaltig.
Der Beitrag bildet den Auftakt einer Reihe von historischen Kurzbeiträgen im Rahmen des Projekts "Zukunft braucht Herkunft. Der VDI seit den 1970er Jahren". Das von der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte betreute Projekt untersucht die neuere Geschichte des Vereins auf Basis umfangreicher Quellenbestände und Zeitzeugeninterviews. In den folgenden Monaten werden in regelmäßigen Abständen Beiträge zur Vereinsgeschichte veröffentlicht. Für weitere Informationen zum Projekt, können Interessierte hier weiterlesen oder den Projektbearbeiter "PD Dr. Sebastian Teupe" teupe@unternehmensgeschichte.de direkt kontaktieren.
hier finden Sie eine ausführliche Darstellung des Reformprozesses, die auf die konkreten Prozesse und Widerstände eingeht und die entsprechenden Quellenangaben aufführt.
Autor: Sebastian Teupe
Fachlicher Ansprechpartner:
Dr.-Ing. Christoph Sager M. Techn.
Tel.: +49 211 6214-404
E-Mail: sager@vdi.de