Die energieflexible Fabrik
Deutschland will bis 2045 Klimaneutralität erreichen und die Stromversorgung vollständig auf erneuerbare Energien umstellen. Das setzt ein Energiesystem voraus, das mit der zunehmenden Volatilität umgehen kann. Die schwankende Stromproduktion durch erneuerbare Energien braucht mehr Flexibilität auf Verbraucherseite. So sind energieflexible Fabriken ein wichtiger Schlüssel zum Gelingen der Energiewende.
Die große Herausforderung liegt in der schwankenden Stromproduktion der regenerativen Erzeugung. Leistung und Energiemengen aus Windturbinen und Solaranlagen fluktuieren, beispielsweise durch kurzfristige Wetterveränderungen oder auch abhängig von der Jahreszeit.
Um dieses Energiesystem im Gleichgewicht von Erzeugung und Verbrauch zu halten:
- müssen die Speicherkapazitäten und das Netz ausgebaut werden,
- müssen die verschieden Sektoren intelligent gekoppelt werden,
- müssen insbesondere Verbraucher flexibler werden, um mit sich verändernden Versorgungslagen zurechtzukommen.
Die höhere Flexibilität auf Verbraucherseite würde einen Umbau ermöglichen weg von einer zentralen, verbrauchsorientierten Energieerzeugung hin zu einer dezentralen, erzeugungsorientierten Verbrauchssteuerung. So könnten geplante Investitionen in die Stromerzeugungssysteme und die Netzinfrastruktur reduziert werden.
Wie Fabriken zum Gelingen der Energiewende beitragen können
Die Industrie würde sich auf die volatile Versorgungslage einrichten und mehr und mehr dazu übergehen, sich dem Energieangebot flexibel anzupassen. Der bis dato stabile Faktor Energie wird somit zu einer variablen Planungsgröße im flexiblen Produktionsbetrieb. Die Industrie muss sich befähigen, Strom vermehrt dann zu nutzen, wenn er reichlich vorhanden und damit kostengünstig ist sowie entsprechend weniger abzunehmen, wenn er knapp und teuer gehandelt wird.
Wie das gelingen kann, zeigt die VDI-Publikation „Energieflexibel in die Zukunft - Wie Fabriken zum Gelingen der Energiewende beitragen können“ anhand vieler praktischer Beispiele aus verschiedenen Branchen.
Hier wird ein systematischer Prozess mit sechs Schritten vorgestellt:
- Analyse des Flexibilitätspotenzials: zum Beispiel Prüfung der Art der Anlagensteuerung, Prozessrelevanz und zeitliche Entkopplung auf ihre Eignung für einen energieflexiblen Betrieb
- Konzeption und Planung der priorisierten Maßnahmen im Detail: Datenerhebung zu Lastgängen, Analyse und Messungen individueller Anlagenparameter, um die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Energieflexibilitätsmaßnahmen zu bestimmen.
- Praktische Umsetzung und Implementierung: der energieflexible Betrieb wird mit Testläufen, Analysen und Sicherheitsüberprüfungen validiert, bevor die Fabrik in den operativen energieflexiblen Betrieb übergehen kann.
- Abstimmung aller Anlagen und Systeme, sodass die (logistischen) Zielgrößen der Produktion eingehalten werden.
- Controlling und Monitoring von Flexibilität, Analyse hinsichtlich Erbringungsgrad und -qualität. Mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse können im folgenden Schritt der Betriebsoptimierung weitere Verbesserungen im Bereich der Flexibilisierung erreicht werden.
- Dieses theoretisch ermittelte Potenzial kann anschließend in eine weitere Iteration der Konzeption und Planung einfließen und so der energieflexible Betrieb kontinuierlich optimiert werden.
Vermarktungsmöglichkeiten und Vermarktungshemmnisse
Dieser sechsstufige Prozess dient der Unterstützung der energetischen Flexibilisierung von Industrieprozessen unter technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Gesichtspunkten. Er ist ein kontinuierlicher Prozess der Verbesserung. Neben der erstmaligen Identifikation und Hebung von Flexibilitätspotenzialen ist die schrittweise Erweiterung und ein erneutes Durchlaufen der initialen Potenzialanalyse sinnvoll, um kontinuierliche Verbesserungen zu erreichen.
Die energetische Flexibilisierung ist dabei als eigenständiges und interdisziplinäres Projekt innerhalb eines Industrieunternehmens einzuordnen. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Vermarktung von Flexibilität eröffnen sich für Industrieunternehmen verschiedene Perspektiven, um Kosten zu senken und/oder Vermarktungserlöse durch Energieflexibilität zu maximieren.
Die Vermarktungsmöglichkeiten sowie die Darstellung und Diskussion bestehender Vermarktungshemmnisse zeigt dabei auf, wie Industrieunternehmen unterschiedliche Möglichkeiten bereits heute erfolgreich nutzen können. Gleichzeitig gibt es wesentliche Änderungsbedarfe in den bestehenden regulatorischen Rahmenbedingungen.
Die Use Cases zeigen, auf welchen Wegen und unter welchen Voraussetzungen die Vermarktung von Flexibilität erfolgreich gelingen kann. Die Anwendungsbeispiele stammen aus mittelständischen Unternehmen des Anlagenbaus, aus der energieintensiven Grundstoff- und Metallindustrie, aus der Landtechnik, aus der Lebensmittelindustrie, aus der Prozess- und Petro-Industrie, aus der Papierindustrie und aus der Logistik.
Vorteile der Flexibilisierung der Stromnachfrage in der Industrie
Angewandte Methoden und Erfahrungswerte aus erfolgreich in der Praxis umgesetzten Projekten zeigen wesentliche Potenziale und tragen somit zur dringend benötigten Flexibilisierung der Stromnachfrage bei. Die vorgestellten Use Cases liefern anderen Unternehmen erste Ansatzpunkte und Impulse für die Einführung von Energieflexibilitätsmaßnahmen. Es lohnt sich über Potenziale im eigenen Betrieb nachzudenken.
Damit die Industrie dieses Flexibilitätspotenzial allerdings auch bereitstellt, müssen insbesondere die regulatorischen Rahmenbedingungen von der Politik stimmen und die richtigen finanziellen Anreize gesetzt werden, was bisher nicht der Fall ist. Regulatorischer Änderungsbedarf ergibt sich deshalb aus der Anpassung der Stromnetzentgeltverordnung, damit die Bereitstellung netz- und systemdienlicher Flexibilität die Berechnung von Netzentgelten nicht negativ beeinflusst.
Eine zusätzliche Motivation zur Flexibilisierung und der damit einhergehenden Möglichkeit zur Maximierung des Einsatzes erneuerbarer Energie ergibt sich für die Industrie aus der CO2-Bepreisung. Seit Januar 2021 liegt der Preis pro Tonne CO2 bei 25 Euro und steigt schrittweise jährlich auf 55 Euro pro Tonne CO2 in 2025. Nach dieser Einführungsphase einer CO2-Bepreisung müssen die Emissionsrechte per Auktion ersteigert werden. Die Gesamtmenge der Zertifikate für den CO2-Ausstoß wird dabei entsprechend den Klimazielen begrenzt.
Aus der Flexibilisierung der Stromnachfrage in der Industrie ergeben sich vielfältige Vorteile für das Stromsystem in Deutschland und damit für die Gesellschaft ebenso wie für jedes einzelne Unternehmen, das seinen Stromverbrauch flexibilisiert.
Autor: Jean Haeffs
Ansprechpartner im VDI:
Dipl.-Ing. Jean Haeffs
Geschäftsführer VDI-Gesellschaft Produktion und Logistik (GPL)
E-Mail-Adresse: haeffs@vdi.de