Der dritte Raum
Wir verbringen durchschnittlich mehr als zwei Jahre unseres Lebens im Auto, neben dem Zuhause und der Arbeit ist es der dritten Raum. Dabei wird das Autofahren immer sicherer und komfortabler. Zahlreiche Sensoren und Assistenzsysteme überwachen dabei den Verkehr um uns herum, aber zunehmend auch den Innenraum und uns, die Fahrerinnen und Fahrer. Das dabei gewonnene Wissen könnte zukünftig Angebote auch abseits der Verkehrssicherheit hervorbringen. Dabei spielt der Gesundheitsaspekt eine wichtige Rolle.
Einen Blick in die Zukunft wirft mit uns zu diesem Thema Julian Weinert. Er beschäftigt sich schon lange mit Automotive Health und den darin schlummernden Potenzialen.
VDI: Automotive Health ist ein Begriff, mit dem nicht jeder sofort etwas anfangen kann. Was versteht man darunter?
Weinert: Ganz breit gefasst geht es um alle gesundheitsrelevanten Angebot im Umfeld der Mobilität. Es können integrierte Angebote in heute schon vorhandene Systeme sein, wie Wellnessangebote im Wagen, oder perspektivisch auch ganz neue Ideen wie Krankentransporte durch autonome Fahrzeuge.
Langfristig also Medizinprodukte im Fahrzeug und das Fahrzeug als Medizinprodukt.
Heute könnten das bereits Angebote sein, die meine aktuellen Bedürfnisse miteinander verbinden. Das Fahrzeug kann innere Anforderungen mit der Peripherie verbinden.
Wenn ich zum Beispiel weiß, dass mein Fahrzeug in Kürze 25 Minuten laden muss, dann könnten mir automatisch Raststätten angezeigt werden, an denen ich neben der Ladestation einen Biobreak machen kann. Perspektivisch könnten Fahrzeuge auch passende Angebote machen, die dem Fahrer oder den Insassen erlauben, die Zeit sinnvoll zu überbrücken - und sei es nur eine Anleitung zu Dehnübungen.
Das eröffnet viele neue Möglichkeiten für eine Anwendung im sogenannten dritten Raum. Denn das Fahrzeug gilt als der drittwichtigste Raum in unserem Leben, neben dem Zuhause und der Arbeitsstätte.
VDI: Wie realistisch sind solche Entwicklungen?
Weinert: Wir alle kennen ja bereits ähnliche Anwendungen an anderer Stelle und es lohnt sich über weitere nachzudenken und diese anzuregen. Denn Zulieferer und Hersteller betrachten das Thema erstmal technisch nüchtern. Einige Anforderungen widersprechen sich beispielsweise auch.
Verbesserte Ergonomie unter Wellnessaspekten entspricht vielleicht nicht den anatomischen Vorgaben für mehr Sicherheit. Also der aufrechten Haltung und den angewinkelten Ellenbogen, damit wir uns bei einem Aufprall nicht die Arme brechen. Das widerspricht ein Stück weit dem, was für uns anatomisch gut ist, durch das ständige Sitzen verkürzen sich die Sehnen und wird fördern damit perspektivisch Rückenleiden. Es hat hier alles seine Vor- und Nachteile und was man im Fahrzeug machen kann, ist relativ begrenzt. Man könnte aber schauen, was Entlastung bringt und was man technisch auch anders bauen oder verbauen könnte.
Es gibt zum Beispiel Nacken- oder Handmassage-Geräte, die mit modernen Schallköpfen ausgestattet sind, diese könnte man in einem Sitz verbauen.
Es gibt ja ständig technologische Weiterentwicklung. Denn man kann natürlich durch Assistenzsysteme Stress rausnehmen, in dem Fahrzeug uns mehr abnimmt, aber man den Menschen auch bei Routinetätigkeiten andere Angebote machen, um deren Wachsamkeit zu erhöhen.
Julian Georg Weinert, Gründer und Geschäftsführer der AMBULANCE Health Innovation Agency, einer Beratungsfirma, die sich auf Innovation im Gesundheitssektor spezialisiert hat. Mit über 25 Jahren Erfahrung hat Weinert sich als Pionier in der digitalen Transformation etabliert, beginnend mit der Entwicklung von Websites für Ärztegesellschaften. Er hat innovative Projekte geleitet, u.a. für Privatärztliche Verrechnungsstellen und war in leitenden Positionen bei Roche Diagnostics und anderen Gesundheitsagenturen tätig. Er hat erfolgreiche Produktetats für große Marken entwickelt und unterstützt als Mentor Startups und Programme im Bereich der Gesundheitsinnovation.
Aktuell konzentriert sich Weinert auf die Digitalisierung der Gesundheit durch Technologien wie künstliche Intelligenz und digitale Therapien und berät Regierungen sowie Unternehmensgruppen zur Gesundheitsinnovation.
VDI: Was kann ich mir darunter vorstellen?
Weinert: Wenn Sie viel unterwegs sind und fahren, etwa einige Stunden Autobahn, dann ist das ermüdend, weil uns das unterfordert. Darum haben wir uns ein paar Entwicklungstrends angesehen. Viele konsumieren beispielsweise Hörbücher, aber statt diesem einseitigem Konsum könnten wir bald in der Lage sein, mittels KI interaktive Hörbücher zu generieren. So könnte ich die Zeit nutzen und statt einem Monolog zu lauschen, ein KI-basiertes Dialogsystem nutzen, das Inhalte so aufbereitet, dass ich im Auto tatsächlich an Themen arbeiten kann. Das spricht das Gehirn anders an als nur zuzuhören. Das könnte bis zu speziellen Trainings gehen.
VDI: Wie realistisch ist das?
Weinert: Neben den regulatorischen Vorgaben bei Medizinthemen kommen bei deutschen Herstellern relativ schnell die Fragen: Was kostet mich das? Zahlen Kundinnen und Kunden das on top, wenn ich es einbaue?
Darum dauert es bei uns auch mittlerweile eine halbe Stunde, wenn man ein Fahrzeug konfiguriert, um auszuwählen, was ich haben will und was nicht. Das macht die Sache kompliziert.
Der Weg der asiatischen Hersteller ist ein anderer. Wird sich diese Funktion durchsetzen, dann baue ich es gleich in jedes Fahrzeug. Wenn ein Kunde sie dann nicht nutzt, ist es eben so. Durch das hohe Volumen wird es dann aber am Ende günstiger als die individuelle Variante.
Diese Entwicklung sieht man allgemein in der Automobilbranche. Viele Trends, die früher noch ein Luxusgut waren, werden inzwischen standardmäßig verbaut, auch weil der Nutzer das erwartet.
VDI: Müssen die Hersteller sich bewegen und mehr anbieten?
Weinert: Das ist eine Wettbewerbs- und Positionierungsfrage. Auch wie lange diese Premiumwelle noch gut funktioniert. Ich denke, die Gesellschaft entwickelt sich eher in eine andere Richtung, dass wir nachdenklicher und bewusster einkaufen.
VDI: Sie sprachen von Assistenzsystemen, die uns Stress abnehmen. Das könnte für viele ältere Menschen sinnvoll sein, die so lang wie möglich mobil bleiben möchten. Dabei sprechen wir oft von zahlungskräftigen Kunden, die bereit sind, für höhere Sicherheit und bessere Qualität entsprechend zu zahlen.
Weinert: Da steckt auf jeden Fall sehr viel Potenzial. Allein wenn man sich Funktionen anguckt wie Parken, während nebenher der Verkehr fließt. Auch andere Unterstützungen und teilautonome Systeme verhindern, dass Fehler gemacht werden, und helfen dabei Unfälle zu verhindern.
Aber gerade, wenn wir zukünftig an vollautonome Fahrzeuge denken, ergeben sich noch ganz andere Szenarien. Kein Hersteller wird den Fall haben wollen, dass eine Fahrerin in München einsteigt und wenn die Enkelin in Nürnberg die Tür öffnet, ist die Oma tot.
Da kommen die vielen Systeme ins Spiel, die zum Beispiel den Innenraum überwachen und auch Vitalparameter erfassen können. In der Zukunft könnten Fahrzeuge dann einen medizinischen Notfall erkennen und gleich ins Krankenhaus fahren.
VDI: Also ein autonomer Rettungswagen?
Weinert: Das ist auch ein spannendes Szenario für die Zukunft. Heute stehen Autos 23 Stunden am Tag ungenutzt herum. Es wäre doch spannend, wenn autonome Fahrzeuge dann zum Beispiel Krankentransporte übernehmen könnten, um den Rettungsdienst zu entlasten.
VDI: Gibt es denn auch Lösungen, die weniger weit in der Zukunft liegen?
Weinert: Heutzutage lesen wir immer wieder von Unfällen, die durch einen medizinischen Notfall des Fahrers verursacht wurden.
Nehmen wir jetzt diese relativ vielen Fälle von Schlaganfällen, Herzinfarkte und so weiter, die während der Autofahrt passieren. Wenn das Fahrzeug jetzt in der in der Lage wäre, kontrolliert abzubremsen und auf den Seitenstreifen zu fahren und einen Krankenwagen zu verständigen. Oder im Notfall ein Signal an andere Fahrzeuge abzugeben.
Jemand, dem es unterwegs schlecht geht, schafft es vielleicht noch anzuhalten und den Warnblinker zu betätigen. Aber wenn wir ein solches Fahrzeug auf der Autobahn am Standstreifen sehen, erwarten wir eine technische Panne und keinen medizinischen Notfall. Darum fahren wir vorbei. Und zwar nicht aus mangelnder Empathie oder Zivilcourage, sondern weil wir denken, dass wir nicht helfen können und der ADAC sich schon kümmert. Würde uns das Fahrzeug aber verständigen, könnte ein Ersthelfer vielleicht Leben retten und einen Notruf absetzen.
VDI: Aus medizinischer Sicht gibt es hier also noch viel Potenzial.
Weinert: Langfristig könnte es noch viel weiter in Richtung Gesundheitslösungen im Fahrzeug gehen. Von Hilfssystemen über Wellbeing bis zur Vitalparametererfassung. Schließlich ist ein Fahrzeug ja ein genau vermessener und immer gleicher Ort, um Sensordaten zu erfassen. Sei es die Körpertemperatur, Puls und Gewicht, bis zur Atemanalyse. In Zukunft könnte man theoretisch schon im Auto einen Teledoktor kontaktieren und der könnte auf aktuelle Daten zu greifen.
Erste Versuche gab es während Corona, da hat ein Unternehmen ein kleines Gerät entwickelt, das Corona klinisch valide im Atemgas detektieren konnte. Stellen Sie sich vor, Sie hätten damals nach 10 Minuten im Taxi automatisch ein Zertifikat aufs Smartphone bekommen.
In der Verbindung von Medizin- und Fahrzeugtechnik wird die Zukunft spannend und die Potenziale sind noch lange nicht ausgeschöpft. Auch in Kombination mit dem Smartphone geht deutlich mehr als nur das individuelle Entertainment.
Interview: Gudrun Huneke
Ansprechpartner im VDI:
Dipl.-Ing. Christof Kerkhoff
VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik
E-Mail: kerkhoff@vdi.de