Wie Schiffe dem Niedrigwasser trotzen
Extremwetterlagen nehmen weiter zu. Dies hat auch große Auswirkungen auf den Schiffsverkehr. Denn mit anhaltenden Dürren, kommt es immer wieder zu Niedrigwasser, das die Transportbranche zu Einschränkungen zwingt. Benjamin Kossmann, Institut für Schiffstechnik, Meerestechnik und Transportsysteme, erklärt, welche technischen Lösungen es gibt, um dem Problem Niedrigwasser zu begegnen.
VDI: Aber weshalb ist Niedrigwasser für viele Schiffe problematisch, und warum haben viele Binnenschiffe Schwierigkeiten auf kleinen Tiefgängen zu fahren?
Benjamin Kossmann: Fällt der Wasserstand in trockenen Monaten deutlich, muss der Tiefgang der Schiffe und damit die Ladung reduziert werden. Der Tiefgang kann allerdings nicht unbegrenzt reduziert werden. Dabei lassen sich zwei wichtige Tiefgänge definieren. Der erste beschreibt den technischen Leertiefgang eines Schiffs. Dieser Tiefgang ergibt sich aus der Leerschiffsmasse mit vollen Brennstofftanks. Der zweite, für den Betrieb deutlich relevantere Tiefgang, wird als nautisch notwendiger Mindesttiefgang bezeichnet. Dieser Tiefgang ist für einen sicheren Betrieb des Schiffs auf den Wasserstraßen notwendig und wird dadurch gekennzeichnet, dass das Schiff jedes abnahmerelevante Manöver sicher durchführen kann. Hierbei sollte der Propeller möglichst ventilationsfrei oder ventilationsarm betrieben werden. Wird der nautisch notwendige Mindesttiefgang unterschritten, kann das Schiff im Extremfall manövrierunfähig werden. Dadurch können gefährliche Situationen mit anderen Verkehrsteilnehmern auf der Wasserstraße entstehen. Es gibt einige Schiffe, die auch im technischen Leertiefgang anfahren können. Ein großer Teil der Flotte kann dies aber nicht.
Tiefgänge, die zwischen dem technischen Leertiefgang und dem nautisch notwendigen Mindesttiefgang liegen, können derzeit nicht gefahren werden. Als kritische Szenarien erweisen sich das Anfahren, Aufstoppen sowie Überhol- bzw. Ausweichmanöver.
VDI: Warum können die Schiffe nicht anfahren?
Benjamin Kossmann: Dies hat konstruktive Gründe. Man ist aus Effizienzgründen bestrebt, stets den effizientesten Propeller zu verbauen, da ein großer Propeller im Vergleich zu einem geometrisch gleichen kleineren Propeller einen größeren Wirkungsgrad aufweist.
Zum sicheren Betrieb von Binnenschiffen ist eine vollständige Tauchung des Propellers bei Fahrt notwendig. Diese wird bei Binnenschiffen durch speziell geformte Hinterschiffstunnel erreicht, die das Wasser zum Propeller führen. Nach dem Anfahren füllt sich der Hinterschiffstunnel durch die Anströmgeschwindigkeit und Pumpwirkung des Propellers mit Wasser. Somit ist es möglich, den Propeller bis zu einem Anteil von maximal 20 Prozent an Austauchung aus der Wasseroberfläche (bei Nullgeschwindigkeit) ohne Eintreten von Ventilation zu betreiben.
Warum ist Ventilation schlimm?
Benjamin Kossmann: An sich ist daran nichts schlimm. Leichtes Ventilieren stellt keine kritische Situation dar. Wird sie jedoch durch starke Tiefgangsreduzierung oder ein unvorhergesehenes Manöver zu dominant, kann die Wassersäule im Tunnel komplett einbrechen. Die beschriebene Manövrierunfähigkeit tritt ein.
Setzt man den geforderten Niedrigwasser-Tiefgang von 1,20 Metern als einen zu erreichenden Tiefgang an, können knapp 50 Prozent der aktuell fahrenden Rheinflotte bei diesem Tiefgang nicht anfahren.
Hier greift der an der Universität entwickelte Lösungsansatz. Das Schiff erhält zwei kleine außenborderähnliche Antriebssysteme am Heck des Schiffs. Deren Propeller haben deutlich kleinere Durchmesser als der Hauptpropeller des Schiffs und werden in Kombination mit einer speziellen ummantelnden Düse betrieben. Diese verhindert effektiv das Ansaugen von Luft und ermöglicht den Betrieb unterhalb des nautischen Mindesttiefgangs. Das System unterstützt beim Anfahren, sodass der primäre Propeller ausreichend angeströmt wird und wieder ventilationsfrei betrieben werden kann, oder ersetzt diesen vollständig. Beide Varianten wurden sowohl in Modellversuchen als auch numerisch mittels CFD-Simulationen untersucht. Die Sekundärantriebe können hierbei auch die Funktion eines Ruders übernehmen, indem sie sich wie Ruderpropeller drehen. Damit kann der primäre Propeller samt Ruderanlage ersetzt werden.
Im untersuchten Testfall wurde ein Binnenschiff mit einer Länge von 85 Metern, einer Breite von 9,5 Metern und einem Maximaltiefgang von 2,5 Metern im Maßstab 1 : 9 untersucht. Modellversuche haben einen nautisch notwendigen Mindesttiefgang von umgerechnet 1,45 Metern ergeben. Der technische Leertiefgang liegt bei 1,1 Metern. Somit erweitert das sekundäre Antriebssystem den Einsatzbereich des Schiffs um 0,35 Meter nach unten. Die Tragfähigkeit im betrachteten Bereich bewegt sich je nach Tiefgang zwischen 200 bis 500 Tonnen - eine während Niedrigwasser nicht zu verachtende Tragfähigkeit, wenn genügend Schiffe mit dem System ausgerüstet sind.
Wie sähe das System in der Praxis aus?
Benjamin Kossmann: Am Heck des Schiffs wird ein kleiner Umbau auf einer Werft vorgenommen. Hierbei wird eine Schnellkupplung an das Heck geschweißt, die eine Aufnahme der Sekundärantriebe ermöglicht. Die Sekundärantriebe sind elektrisch angetrieben und können bei Bedarf mit bordeigenen Mitteln, wie dem Autokran, an der Adapterplatte montiert werden. Die Systeme sind per LKW transportfähig und können somit bei Bedarf zum jeweiligen Schiff gebracht werden. Hierdurch wird die flexible Nutzbarkeit an unterschiedlichen Schiffen erhöht. Die elektrische Energie wird durch ein an Bord befindliches Hilfsaggregat, dem Lade- und Löschmotor, oder dem Bugstrahlgenerator bereitgestellt. Auch die Benutzung der Hauptantriebsmaschine ist denkbar. Da bei Niedrigwasser nur langsame Fahrgeschwindigkeiten aufgrund des Schiff-Absunks möglich sind, ist der Leistungsbedarf gering: um die 200 kW für beiden Anlagen zusammen, um eine bei Niedrigwasser realistische Geschwindigkeit von 8 km/h durch das Wasser zu erreichen. Der Antrieb ist vertikal verfahrbar, damit er bei Nichtgebrauch aus dem Wasser verfahren werden kann und somit keinen zusätzlichen Widerstand darstellt. Durch alle genannten Maßnahmen ist dieses System mit geringen Rüstzeiten auf Werften einbau- und integrierbar und bietet eine zügige Möglichkeit, eine große Anzahl von Schiffen niedrigwasserfähig zu machen.
VDI: Was aber, wenn das oben beschriebene Konzept nicht reicht, und mehr Tragfähigkeit bei gleichem Tiefgang gefragt ist?
Benjamin Kossmann: Eine weitere Option sind zusätzliche Auftriebskörper, die an der Back- und Steuerbordseite angebracht werden. Dieses Szenario wird ebenso analysiert, stellt aber weitaus größere Herausforderungen in der Handhabung dar. Im untersuchten Fall wurden dem bereits oben beschriebenen Binnenschiff 57 Meter lange und 1,5 Meter breite Auftriebskörper angefügt. Sie weisen eine symmetrische Formgebung auf, wodurch sie einfacher zu handhaben sind, da es keine Back- oder Steuerbordversion gibt. Mithilfe der Auftriebskörper wird die Verdrängung bei einem Tiefgang von 1,45 Metern um knapp 300 Tonnen erhöht. Dieses System birgt einige Herausforderungen. Durch die größere Schiffsbreite sind Schleusenpassagen in einem Stück nicht möglich. Vor und hinter den Schleusen muss ausreichend tiefes Wasser vorhanden sein, um die Auftriebskörper an- und abschwimmen zu können. An jeder Schleuse muss Verband getrennt und einzeln auf die nächste Stufe auf- oder abgeschleust werden - ein sehr umständliches, personal- und zeitintensives Unterfangen. Durch die vergrößerte Breite des Schiffs wird der Widerstand zudem erhöht, da die Breite beim Gesamtwiderstand dominierend ist. Hierdurch erhöht sich der Leistungsbedarf des Schiffs, um weiterhin die gleiche Geschwindigkeit wie ohne Auftriebskörper zu erreichen. Aus wirtschaftlicher Sicht sind somit nur kleine Geschwindigkeiten bis maximal 10 km/h sinnvoll.
Mit den hier vorgestellten Ansätzen lässt sich der Problematik Niedrigwasser Herr werden. Durch die universelle und schnelle Einsetzbarkeit können die Lösungen bei Bedarf zügig zum Einsatz kommen und Engpässe beim verfügbaren Schiffsraum reduziert werden. Aber: Von den Modellversuchen bis hin zu einem serienreifen Produkt sind noch einige Hürden zu nehmen. Immerhin wäre ein Einsatz solcher Systeme innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre denkbar.
Benjamin Kossmann, M-SC. arbeitet am Institut für Schiffstechnik, Meerestechnik und Transportsysteme, Universität Duisburg-Essen, an neuen Antrieben für Flussschiffe bei Niedrigwasser.
Fachlicher Ansprechpartner:
Dipl.-Ing. Simon Jäckel
VDI-Fachbereich Schiffbau und Schiffstechnik
E-Mail: jaeckel@vdi.de