Wer analytisch denkt, ist weniger anfällig
Früher wurden Verschwörungstheorien belächelt und als Spinnerei abgetan. Mit Entstehung der Corona-Pandemie haben Verschwörungstheorien jedoch Hochkonjunktur: Die Skepsis gegenüber aktuellen Forschungsergebnissen ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen – Grund genug, dass sich ein Team der VDI/VDE Innovation und Technik GmbH intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Dr. Ernst Hartmann, Leiter des Bereichs Bildung und Wissenschaft, kennt die Details.
Herr Dr. Hartmann, Sie waren an der Erstellung der neu erschienen Publikation „Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit“ beteiligt. Worum geht es?
Hartmann: Mit dem Aufkommen der Corona-Pandemie waren Wissenschaft und Politik sehr gefordert. Von der Wissenschaft wurden schnelle und zugleich belastbare Einschätzungen erwartet – zum Virus und zur Krankheit selbst aus medizinischer Sicht, aber auch zu möglichen ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemie und der politischen Bewältigungsstrategien. Politische Entscheidungsträger mussten diese Einschätzungen schnell nachvollziehen, gegeneinander abwägen – etwa medizinische gegen ökonomische Implikationen – und in möglichst konsistentes politisches Handeln übersetzen. Die Zwischenbilanz von Ende Juli sieht so aus, dass das insgesamt recht gut gelungen ist. Für das Funktionieren moderner, pluralistischer und demokratischer Gesellschaften ist es extrem wichtig, dass solche Einschätzungs- und Entscheidungsprozesse fundiert und möglichst transparent ablaufen. Eine breite Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen ist im vorliegenden Fall auch deshalb so bedeutsam, weil Bürger*innen aktiv mitwirken müssen – Abstandsregelungen, Mund- und Nasenschutz – , damit die Maßnahmen im Interesse aller wirken. Vor diesem Hintergrund hat es uns sehr beunruhigt, dass Protagonisten von Verschwörungstheorien öffentlich darauf hingewirkt haben, das für unsere Gesellschaft gerade jetzt so wichtige Vertrauen in Politik und Wissenschaft systematisch zu untergraben. Wir sehen uns selbst als wissenschaftsbasierte Berater und Dienstleister für die Politik, dadurch fühlten wir uns als Institution und als Personen betroffen. Mit unserer Publikation wollen wir beitragen zur Diskussion darüber, was hinter Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien steckt, was man dagegen tun und was die Politikberatung für die Zukunft lernen kann.
„Der leichte Zugang zu Wissen ist ein Teil des Problems“
Lange dachte man an Einzelne, die aus Unwissenheit kruden Ideen folgen. Inzwischen hat man den Eindruck, dass unwissenschaftliche Behauptungen in der breiten Masse angekommen sind. Warum finden in einer Zeit, in der Wissen so leicht zugänglich ist wie nie zuvor, Verschwörungstheorien so viel Gehör?
Hartmann: Der leichte Zugang zu Wissen ist sicherlich ein Teil des Problems. Erstens wächst mit der Menge des verlässlichen Wissens auch die der Desinformation und Propaganda mindestens ebenso schnell. Zweitens fehlt Nutzern von Onlineportalen und sozialen Medien oftmals die Fähigkeit, die Verlässlichkeit von Informationen beurteilen zu können. Dies verschafft Verschwörungstheoretiker und Demagogen einen Vorteil, weil ihre Angebote einfache Antworten auf komplexe Fragen versprechen. Drittens entstehen in den sozialen Medien Filterblasen und Echokammern, die auch Personen, die eher abseitige Überzeugungen vertreten, das Gefühl vermitteln, Teil einer breiten Gesinnungsgemeinschaft zu sein.
Spielt die Corona-Pandemie in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle?
Hartmann: Covid-19 ist sicherlich insofern besonders, als die Pandemie eine gesamtgesellschaftliche Krise ausgelöst hat, die in ihren Auswirkungen besonders gravierend ist und die das Leben praktisch aller Menschen unmittelbar betrifft. Dies bewirkt Ängste, weil die genauen Auswirkungen der Krankheit selbst und der durch sie ausgelösten sozio-ökonomischen Krise auf die jeweils eigene Person nicht genau abgeschätzt werden können – was in Teilen ein objektives Problem ist, weil die entsprechenden Informationen und Forschungsergebnisse noch gar nicht vorlagen bzw. vorliegen. Weiterhin entstehen Frustrationen durch die – objektiv wie auch immer moderaten – Eingriffe ins Privatleben; viele Freizeitaktivitäten konnten nicht in der Form ausgeführt werden, wie die Menschen es normalerweise wünschen und gewohnt waren. Verschwörungstheorien erscheinen in einer solchen Situation als attraktiv, insbesondere, wenn sie die Realität der Bedrohung insgesamt leugnen. Dies reduziert das Gefühl der Bedrohung und liefert eine subjektive Rechtfertigung dafür, Einschränkungen zu ignorieren.
Uneinsichtiges Verhalten hat gravierende Folgen für den Einzelnen
Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung? Und was birgt das für Gefahren?
Hartmann: Die unmittelbaren Auswirkungen sind offensichtlich, wenn sich die Verschwörungstheorie auf medizinische Sachverhalte bezieht. Überall dort, wo Verschwörungstheorien und ähnliche illusionäre Überzeugungen zu uneinsichtigem Verhalten führen, steigen die Gesundheitsrisiken für alle direkt oder indirekt Betroffenen an. Die Auswirkungen etwa des Wahlkampfauftritts von Donald Trump in Tulsa (Oklahoma) lassen sich direkt in der Infektionsstatistik ablesen. Es gibt ja enge Beziehungen zwischen populistischer Politik einerseits und Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien andererseits; dies äußert sich insbesondere in der Leugnung von Tatsachen und Zusammenhängen, die in den jeweiligen Wissenschaftscommunities weitestgehend unstrittig sind, und auch generell in der systematischen Verwendung von Lügen. Die Entwicklung der Covid-19-Pandemie in Ländern wie den USA, Brasilien und Großbritannien wirft hier zumindest Fragen nach Zusammenhängen auf. In diesem Zusammenwirken von Verschwörungstheorien und Populismus – bis hin zum Extremismus, insbesondere Rechtsextremismus – sehe ich eine besondere Gefahr. Pluralistische Demokratien leben von der Legitimität der in ihnen getroffenen Entscheidungen, und dafür ist es wichtig, dass die den Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalte von breiten Kreisen der Bevölkerung als Fakt, als Realität, als Wahrheit erkannt werden können. Dies wiederum setzt voraus, wissenschaftliche Erkenntnisse und Aussagen als solche wahrnehmen und verstehen zu können. Ein zweiter Aspekt ist, dass auch in Demokratien gefällte Entscheidungen nicht nur legitim, sondern auch effektiv sein müssen: Sie müssen die Ziele tatsächlich erreichen, die sie erreichen sollen, eine bloße rhetorische Behauptung reicht ab einem bestimmten Punkt nicht mehr aus. Eine Pandemie kann man nicht weglügen. Effektive, also in der Realität erfolgreiche Politik verträgt sich aber nicht mit der Leugnung elementarer realer Zusammenhänge. In der aktuellen großen Zustimmung der Bevölkerung zu offensichtlich effektiven politischen Maßnahmen der Covid-19-Bewältigung könnte man ein hoffnungsvolles Zeichen dafür sehen, dass diese Zusammenhänge zumindest in den Grundzügen von vielen Menschen gesehen werden.
„Bildung zum wissenschaftlichen Denken muss früh erfolgen“
Wie kann man diesem Phänomen begegnen?
Hartmann: Bildung und Information helfen, aber nicht unter allen Bedingungen. Wenn erst einmal ein politisch extremes und/oder verschwörungstheoretisch geprägtes Weltbild herausgebildet ist, können sachlich zutreffende Informationen sogar paradoxe, schädliche Wirkungen haben. So konnte etwa gezeigt werden, dass eine Information über sachlich unzutreffende Behauptungen von Impfgegnern bei besonders impfskeptischen Personen nicht etwas zu einer höheren Impfneigung führt, sondern sogar zu einer niedrigeren. Hier wirken Mechanismen wie motivated reasoning – eine Art des Denkens, die den Denkprozess von vornherein auf als wünschenswert empfundene Ergebnisse hinlenkt – und confirmation bias – die Neigung, solche Informationen zu suchen und hoch zu bewerten, die den eigenen Vorurteilen entsprechen. Deswegen muss Bildung zum wissenschaftlichen Denken früh erfolgen, ehe sich solche Fehleinstellungen verfestigt haben. Ein erstaunlich gutes Gegengift gegen Verschwörungstheorien ist analytisches Denken. Es konnte experimentell gezeigt werden, dass Personen, die auf analytisches Denken orientiert werden, signifikant weniger anfällig für Verschwörungstheorien und politischen Extremismus sind. Speziell bei politischem Extremismus hilft es auch, Personen die Wirkungsweise bestimmter politischer Maßnahmen erklären zu lassen. Im Zuge dieser Übung wird ihnen klar, wie wenig Erklärungskraft die eigenen, simplifizierenden Überzeugungen haben, und in der Folge orientiert sich ihre Einstellung mehr zur Mitte hin.
Haben Sie eine „Lieblingstheorie“ oder ein besonders gutes Beispiel, das die Problematik veranschaulicht?
Hartmann: Besonders perfide finde ich die sogenannte Impfkritik. Auf der Basis empirisch völlig unhaltbarer, teilweise in sich selbst widersprüchlicher – Stichwort: analytisches Denken – Behauptungen werden Menschen dazu gebracht, ihren Kindern oder auch sich selbst medizinisch sinnvolle und sichere Impfungen vorzuenthalten. Das Perfide daran ist, dass die eigenen Kinder, die nicht geimpft werden, von der Herdenimmunität profitieren. Diese entsteht dadurch, dass die meisten Eltern eben keine Impfskeptiker sind und ihre Kinder impfen lassen. Umgekehrt entstehen gravierende Risiken gar nicht vorrangig für die eigenen Kinder, sondern für Kinder mit besonderen Risikofaktoren, etwa Immuninsuffizienz. Dieses grundlegende Muster findet sich bei vielen Verschwörungstheorien: Man kann nur deswegen weitgehend ungestraft Verschwörungstheorien anhängen und nach ihnen handeln, weil die überwältigende Mehrheit dies nicht tut – und damit die überlebensnotwendige Rationalität der Gesellschaft sicherstellt.
Interview: Gudrun Huneke
Ansprechpartner:
PD Dr. Ernst Andreas Hartmann
VDI/VDE Innovation + Technik GmbH
Bereichsleiter Bildung und Wissenschaft
E-Mail-Adresse: hartmann@vdivde-it.de