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Zukunft braucht Herkunft

Warum sich Unternehmen mit ihrer Geschichte befassen sollten

Bild: Mlenny via Getty Images

Unternehmen sollten sich mit ihrer Geschichte befassen und anfangen sie als eine wertvolle Ressource zu betrachten. Denn ein tiefgreifendes Verständnis der eigenen Vergangenheit bringt wesentliche Vorteile für Unternehmen. Dipl.-Archivar Tomislav Novoselac nennt fünf Gründe und ihre positiven Auswirkungen.

In der dynamischen Welt von heute, die sich durch einen starken Glauben an den Fortschritt und rasche Veränderungen auszeichnet, scheint Geschichte für Unternehmen oft nebensächlich. Ihr Blick richtet sich nach vorne – auf Innovation, die rasche Implementierung neuer Technologien und wirtschaftliches Wachstum. Der Blick zurück erscheint manchen für die Zukunftsgestaltung gar als hinderlich.
In den letzten Jahren findet hier jedoch ein Umdenken statt. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland mittlerweile über 200 hauptamtlich geführte Unternehmensarchive. Sie sind von einer großen Typenvielfalt gekennzeichnet und in unterschiedlichen Ausprägungen und Größen vorzufinden.

Prominentestes Beispiel: die Automobilindustrie. Unternehmen wie Mercedes, Porsche, BMW und VW beschäftigen in ihren 'Classic'-Centern mittlerweile eine große Zahl an Mitarbeitenden, die sich ausschließlich um die Pflege der Unternehmensgeschichte und -tradition kümmern. In modernen Markenmuseen werden Innovation und Geschichte in eindrucksvoller Weise zu einer Einheit, einem Markenmythos, verschmolzen. Diese 'Markentempel' ziehen Jahr für Jahr Millionen von Besuchern in ihren Bann. Die Geschichte hat sich in diesen Unternehmen zu einem zentralen und integralen Bestandteil der Markenkommunikation entwickelt. 

Warum Geschichte?

Erstens: Information und Wissen

In der heutigen wissensbasierten Welt sind Informationen für Unternehmen von entscheidender Bedeutung, da sie die Grundlage für strategische Entscheidungen und Wettbewerbsfähigkeit bilden. Sie ermöglichen es, Markttrends zu identifizieren, Kundenbedürfnisse zu erkennen und Produkte oder Dienstleistungen entsprechend anzupassen. Ein gut informiertes Unternehmen kann daher effektiver auf Marktdynamiken reagieren und fundiertere Entscheidungen treffen. Die Geschichte eines Unternehmens erweist sich hierbei als reichhaltige Informationsquelle. Archive spielen dabei eine wichtige Rolle, indem sie diese Informationen sammeln und bewahren, um ein dauerhaftes Gedächtnis des Unternehmens zu schaffen. Derzeit werden solche Informationen für diverse Anwendungsfälle genutzt, wie beispielsweise Kundenanfragen und Firmenjubiläen.

Trotz dieser Nutzung bleibt das volle Potenzial historischer Daten häufig jedoch unerschlossen, vor allem da viele dieser Informationen noch nicht digitalisiert sind. Ein durch KI unterstütztes Unternehmensarchiv könnte somit zu einer unerschöpflichen Wissensquelle werden. Die Herausforderungen bei der Nutzung dieser Archive sind zwar groß, doch mit den richtigen Werkzeugen und Ansätzen könnte der darin verborgene Schatz gehoben und nutzbar gemacht werden. Es ist daher entscheidend, diese Informationen schon heute für zukünftige Generationen zu erhalten und zugänglich zu machen.

Zweitens: Orientierung und Erkenntnisgewinn

Die Weitergabe von Erfahrung und Wissen ist aus evolutionärer Perspektive ein grundlegender Aspekt des menschlichen Fortschritts. Sie ermöglicht es uns, auf den Errungenschaften und Fehlern von vorangegangenen Generationen aufzubauen, uns kontinuierlich weiterzuentwickeln und als Menschheit zu gedeihen. Dieser Prozess, der als kulturelle Evolution bezeichnet wird, ist einzigartig für die menschliche Spezies und hat eine entscheidende Rolle in ihrer Entwicklung gespielt. Die kulturelle Evolution unterscheidet sich von der biologischen Evolution, da sie auf dem Lernen und der Weitergabe von Informationen, Fähigkeiten und Traditionen von einer Generation zur nächsten basiert, statt auf genetischer Vererbung.

Diese Wissens- und Erfahrungsweitergabe hat sich in der modernen Welt exponentiell weiterentwickelt. In unserer schnelllebigen, technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft hat die Fähigkeit, Wissen effizient zu teilen und zu nutzen, einen nie dagewesenen Fortschritt ermöglicht. Für die Unternehmen ist dieser Prozess gleichermaßen relevant und bildet die Grundlage für Innovation, Anpassungsfähigkeit und ihren langfristigen Erfolg. Auf die Unternehmenswelt übertragen bedeutet das: Organisationen, die in der Lage sind, aus ihrer Geschichte zu lernen und diese Erkenntnisse – ihr mühsam erworbenes Wissen, ihr Know-how und ihr historisch gewachsenes Regelwerk – über Generationen hinweg weiterzugeben, sind bestens gerüstet, um sich an Veränderungen anzupassen und zukünftige Herausforderungen zu meistern.

Drittens: Identitäts- und Markenbildung

Im Kontext der Unternehmensführung sind Unternehmensidentität und Markenbildung essenziell für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens. Beide Konzepte sind eng miteinander verknüpft. Die Unternehmensidentität bezieht sich auf das innere Wesen und die Kerncharakteristika eines Unternehmens. Für die Mitarbeitenden bietet eine starke Unternehmensidentität Orientierung und ein Gefühl der Zugehörigkeit und fördert so das Engagement und die Motivation.

Markenbildung richtet sich dagegen auf die Darstellung der Unternehmensidentität nach außen. Sie beinhaltet, wie das Unternehmen von externen Stakeholdern, insbesondere Kunden, wahrgenommen wird. Die Marke ist die Summe aller Wahrnehmungen und Erfahrungen, die Menschen mit dem Unternehmen verbinden und umfasst Aspekte wie das visuelle Erscheinungsbild (Logo, Farbschema), die Kommunikation (Werbebotschaften, Tonfall) und das Kundenerlebnis.

Eine authentische und effektive Markenbildung ist in diesem Sinne nur möglich, wenn sie auf einer soliden und klar definierten Unternehmensidentität aufbaut. Die Bedeutung der eigenen Geschichte für die Identitäts- und Markenbildung wird besonders deutlich, wenn man sie auf die Ebene des Individuums herunterbricht. In Bewerbungsgesprächen stellt sich der Kandidat seinem Gegenüber mit seinem Lebenslauf vor. Er referenziert auf den persönlichen Werdegang und seine Geschichte – woher er kommt, welche Stationen er durchlaufen und was er geleistet hat. Der Gießener Historiker und Philosoph Odo Marquard fasste diesen Gedanken so zusammen: "Identität ist die Antwort auf die Frage, wer einer ist. Und wer einer ist, erfährt man durch seine Geschichte."  Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf Unternehmen und Organisationen übertragen. Ihre Geschichte bildet die Grundlage, auf der Identität und Marke aufgebaut sind.

Viertens: Glaubwürdigkeit und Vertrauen

Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind Schlüsselelemente in der Beziehung zwischen einem Unternehmen und seinen Stakeholdern – etwa seinen Kunden, Mitarbeitenden, den Investoren oder der breiteren Öffentlichkeit. Die Geschichte eines Unternehmens stellt dabei eine wichtige Quelle für Vertrauen und Glaubwürdigkeit dar. Wie oben bereits erläutert, ist die eigene Geschichte immer als ein Narrativ zu begreifen. Es zeigt, wie das Unternehmen Herausforderungen gemeistert, für welche Werte es eingestanden und wie es seine Ziele verfolgt hat. Sie ermöglicht es den Stakeholdern, das Unternehmen nicht nur auf Basis seiner aktuellen Leistungen und Versprechen, sondern auch im Lichte seiner vergangenen Handlungen und Errungenschaften zu bewerten. Insbesondere in Zeiten von Krisen kann die Unternehmensgeschichte eine entscheidende Ressource für den Aufbau und die Aufrechterhaltung dieses Vertrauens sein. Sie dient als ein konkretes Zeugnis der Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens.

Vertrauen aber setzt Glaubwürdigkeit voraus. Geschichte kann den Unternehmen dabei helfen, an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Glaubwürdigkeit entsteht durch die Übereinstimmung zwischen dem, was ein Unternehmen sagt, und dem, was es tut. Die Unternehmensgeschichte kann als Beleg dafür dienen, dass das Unternehmen seine Versprechen und Verpflichtungen ernst nimmt.

Fünftens: Innovation und Kreativität

Die Unternehmensgeschichte kann auch für Innovation und Kreativität eine nützliche Inspirationsquelle sein. Denn die Historie liefert ein reichhaltiges Reservoir an Erfahrungen, Erkenntnissen, Ideen und Konzepten, die neu interpretiert oder weiterentwickelt werden können. Beispielsweise können frühere Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle, die vielleicht ihrer Zeit voraus waren, in einem neuen Kontext oder mit neuer Technologie wieder aufgegriffen und neu erfunden werden. Das Geschichtsfeld kann somit eine Perspektive anbieten, die dazu anregt, über bestehende Grenzen hinauszudenken und bewährte Konzepte auf innovative Weise neu zu gestalten. Die Bewältigung von Herausforderungen und Hindernissen in der Vergangenheit kann für Unternehmen eine Quelle der Inspiration sein. Geschichten darüber, wie kreative Lösungen für Probleme gefunden oder neue Chancen erschlossen wurden, unterstreichen die Bedeutung von Beharrlichkeit, Experimentierfreude und dem Mut, neue Wege zu gehen.

Zusammenfassung

Der Mensch ist untrennbar mit seiner Geschichte verbunden. Sie bildet das Fundament seines Denkens und Handelns – oder wie Proust es ausdrückte: "Erst im Gedächtnis formt sich die Wirklichkeit". Lange Zeit haben Unternehmen den Wert ihrer Geschichte unterschätzt, doch zunehmend erkennen sie ihre strategische Bedeutung. Viele Unternehmen haben verstanden, dass ein tieferes Verständnis der Vergangenheit notwendig ist, um die Gegenwart zu begreifen und fundiertere Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Daher: Zukunft braucht Herkunft! Archive als Gedächtnisorte nehmen hierbei eine Schlüsselrolle ein. Sie sind nicht nur Bewahrer historischen Wissens, sondern tragen auch wesentlich dazu bei, Identität und Markenimage der Unternehmen zu stärken. Es ist an der Zeit, dass Unternehmen sich dieser Chancen und der Verantwortung bewusstwerden und ihre Geschichte aktiv pflegen.

Autor: Dipl.-Archivar Tomislav Novoselac

Ihr Ansprechpartner im VDI:
Dr. Andreas Herrmann
VDI-Gesellschaft Technologies of Life Sciences
Fachbereich Max-Eyth-Gesellschaft Agrartechnik
Telefon: +49 211 6214-445
E-Mail: meg@vdi.de

Der Beitrag "Zukunft braucht Herkunft – warum sich Unternehmen mit ihrer Geschichte befassen sollten" ist im Jahrbuch Agrartechnik erschienen.

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