Visioneering und die Kunst des Möglichen
Seit jeher haben Ingenieure und Ingenieurinnen mit ihrer technischen Expertise entscheidend zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beigetragen. Die Geschichte der Ingenieurwissenschaften reicht von den beeindruckenden Aquädukten und Pyramiden der Antike bis hin zur modernen Infrastruktur wie Straßen und Brücken. Bereits im absolutistischen Frankreich des 17. Jahrhunderts erhielt das Ingenieurwesen durch die Bildung von Ingenieurcorps für den Festungsbau einen institutionellen Rahmen. Diese sogenannten "Genietruppen" markieren den Beginn einer professionellen und organisierten Ingenieurtätigkeit.
Im 18. Jahrhundert, einer Zeit großer technischer und industrieller Fortschritte, erweiterte sich das Spektrum der Ingenieuraufgaben erheblich. Neben dem militärischen Bereich waren Ingenieure nun auch im zivilen Sektor, insbesondere im Straßen- und Brückenbau sowie im Maschinenbau stark gefragt. Ihre Fähigkeit, scheinbar unbeherrschbare Probleme zu lösen und Zukunftssorgen zu lindern, ließ sie zu Schlüsselfiguren in der Transformation der Gesellschaft werden. Ingenieure wurden als Genies, Altruisten und Wohltäter angesehen, die ihr Wissen und Können zum Wohl der Allgemeinheit einsetzten.
Diese Tradition setzte sich fort bis ins Silicon Valley. Dort glaubte eine neue Generation von Ingenieuren und Ingenieurinnen daran, ausgestattet mit einer Kombination aus technischer Sachkenntnis und geschäftlichem Know-how, durch harte Arbeit und kreative Zusammenarbeit die meisten Probleme der Menschheit lösen zu können.
Die Rolle der Ingenieurinnen und Ingenieure in der Geschichte zeigt, dass technologischer Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklung Hand in Hand gehen. Der Glaube daran, dass technische Lösungen zu einer besseren Welt beitragen können, bleibt eine treibende Kraft in der Ingenieurwissenschaft.
Doch all das reicht nicht mehr – heutzutage wird noch mehr vom Ingenieurwesen verlangt! Es ist nicht mehr nur die Technologie gefragt, sondern auch, die Menschen für den Wandel zu begeistern und sie mitzunehmen.
Der nachfolgende Artikel basiert auf dem Buch Visioneering von Jan Wokittel und lädt jeden im Unternehmen dazu ein, sich aktiv an der Gestaltung einer positiven Zukunft zu beteiligen. Der Fokus ist dabei besonders auf die Praxis gerichtet, erzählt anhand zahlreicher Beispiele. Dazu gibt es eine Online-Toolbox, die mit über 100 praxisnahen Tipps und Methoden bei der Gestaltung des Wandels unterstützt.
Herausforderungen in einer Umgebung, die sich immer schneller wandelt
In einer Welt, die von raschen technologischen Fortschritten und ständigem Wandel geprägt ist, stehen INgenieurinnen und Ingenieure an der vordersten Front der Innovation. Die Unternehmen, in denen sie arbeiten, stehen vor der gewaltigen Herausforderung, nicht nur Schritt zu halten, sondern die Führung zu übernehmen. Die digitale Revolution, angeführt von bahnbrechenden neuen Technologien und disruptiven Unternehmen, hat die Regeln des Spiels verändert. Was gestern noch als innovativ galt, kann heute bereits überholt sein. In diesem dynamischen Umfeld sind Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und der ständige Wille zur Veränderung zu überlebenswichtigen Eigenschaften geworden.
Im Spätsommer 2022 hatte ich die Chance, beruflich einige Monate im Silicon Valley zu verbringen. Während meiner Zeit dort konnte ich unter anderem Wes Sylvester, Vice President bei Cisco kennenlernen. Cisco ist ein weltweiter Marktführer in den Bereichen IT und Netzwerktechnik. Wir haben uns darüber ausgetauscht, wie wir Unternehmen und Teams fit für die Zukunft machen könnten. Sein einleitendes Zitat darüber, was Cisco als planbar für die Zukunft annimmt, brachte es auf den Punkt:
»Die Zukunft ist unvorhersehbar.«
Wir konnten die Zukunft zwar noch nie genau vorhersagen, aber wir konnten sehr gut Trends ableiten und uns danach ausrichten. Selbst das wird immer schwieriger bis unmöglich. Dieses vollkommen Unplanbare ist die Realität. Unternehmen (die Grundpfeiler unseres Wohlstands) stehen in der Pflicht, alles und jeden so fit zu machen, dass daraus nachhaltiger Erfolg entstehen kann. Vor allem uns Ingenieure und Ingenieurinnen trifft diesbezüglich eine besondere Verantwortung: Für nahezu alle großen Herausforderungen auf der Welt, erhoffen wir uns technische Lösungen: Sei es zur Bewältigung des Klimawandels, die Erschließung neuer Energiequellen, dass Entwickeln neuer Mobilitätsformen oder neu leider auch, die Entwicklung neuer Waffensysteme zur Befriedung globaler Konflikte. Wir Ingenieure und Ingenieurinnen sind es, die sich diese Technologien ausdenken. Doch oftmals sind es genau diese neuen technologischen Errungenschaften, die Unternehmen in immer kürzeren Abständen dazu zwingen, sich anzupassen.
Wir haben nicht nur das Gefühl, dass heute scheinbar vieles schneller ist. Es ist tatsächlich wahr! Veränderungen treten in immer kürzeren Zeitabständen ein. Die Zeit, sich auf Veränderungen einzustellen, wird immer kürzer.
Fünf Punkte, die uns helfen, den Wandel positiv zu gestalten
In einer Zeit, in der Veränderung die einzige Konstante ist, ist es entscheidend, dass Unternehmen und ihre Führungskräfte sich anpassen und die Zukunft aktiv mitgestalten. Dabei hilft es, einen ganzheitlichen Blick darauf zu werfen, was für erfolgreiche Teams wichtig ist.
- Kompetenzen - Bereiten wir die Menschen auf die Zukunft vor
In einer Welt, die durch technologischen Fortschritt rasant verändert wird, ist die kontinuierliche Entwicklung von Kompetenzen unerlässlich. Unternehmen sollten ihre Mitarbeitenden nicht nur in aktuellen Fähigkeiten schulen, sondern auch Kompetenzen für zukünftige Herausforderungen aufbauen. Dies umfasst alles von technologischen Fertigkeiten bis hin zu adaptiven Skills wie kritischem Denken und Problemlösung. Aber auch die Fähigkeit, seine eigenen Arbeitsweisen anpassen zu können, wird in interdisziplinären Teams immer wichtiger.
- Sinn - Motivation durch Bedeutung
Immer mehr Menschen suchen heute mehr denn je nach Sinn in ihrer Arbeit. Unternehmen, die eine starke, sinnstiftende Mission verfolgen und diese klar kommunizieren, können Talente nicht nur anziehen, sondern auch langfristig binden. Dabei liegt die Kunst darinnen, das richtige Mittelmaß zwischen sinnstiftender und notwendiger Arbeit zu finden. Zu oft wird heute vergessen, dass es schlicht auch Arbeiten gibt, die weniger sinnstiftend sind, aber trotzdem getan werden müssen.
- Kultur - Fördern von Kreativität und Zusammenarbeit
Die Unternehmenskultur ist das Fundament für Innovation. Eine Kultur, die Kreativität und kollaborative Arbeit unterstützt, hilft Unternehmen dabei, sich schnell anzupassen und zu innovieren. Durch den Austausch von Wissen und die Förderung von Teamarbeit können Unternehmen ihre Innovationskraft stärken. Dabei ist die Arbeit an der Kultur mit die schwierigste: Eine Kultur kann nicht vorgegeben werden. Sie ist die Summe aus dem Verhalten der Menschen. Dennoch gibt es viele Möglichkeiten, eine Kultur erlebbar zu gestalten und auch zu verbessern.
- Führung - Neue Ansätze für das Zeitalter der Unsicherheit
Angesichts der zunehmenden Komplexität und Unsicherheit benötigen Unternehmen Führungsstile, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit fördern. Neue Führungsansätze, die Empowerment und Agilität betonen, werden immer wichtiger. Diese Ansätze müssen in strategische Entscheidungen integriert werden, um Teams durch ungewisse Zeiten zu leiten. Dabei muss auch festgehalten werden, dass nicht jeder dafür geeignet ist, eine gute Führungsperson zu sein – und das ist in Ordnung. Dennoch ist oftmals der klassische Karrierepfad mit der Übernahme von Führung verbunden. Unternehmen tun daher gut daran, alternative Karrierepfade anzubieten, um diesem Dilemma entgegenzuwirken.
- Organisation - Agile und adaptive Strukturen
Organisatorische Strukturen müssen so aufgebaut sein, dass sie es ermöglichen schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Hierzu ist mehr Interdisziplinarität und Flexibilität in der Arbeitsweise notwendig. Agile Methoden und flachere Hierarchien können dazu beitragen, schneller und effektiver auf Herausforderungen reagieren zu können. Doch sie sind kein Allheilmittel. Nicht jede Organisation erfordert agile Arbeitsmethoden.
Die genannten Punkte sind keineswegs neu, die ganzheitliche Betrachtung und Berücksichtigung auch für das Ingenieurwesen ist es jedoch. Am Ende geht es eben nicht um die reine Technologie, sondern auch um die Art, wie wir heute arbeiten, wie eine Arbeitsumgebung gestaltet ist und wie andere Disziplinen einbezogen werden.
Autor: Jan Wokittel