Normung ist gelebte Demokratie! Oder: Die Macht des Konsenses
Über Normung halten sich hartnäckig viele Vorurteile, einige haben wir im Blog-Beitrag „Sechs Irrtümer über Richtlinien und Normen“ entkräftet. Dabei ist technische Regelsetzung nicht nur wichtig sondern ein durchaus spannender und fordernder Prozess.
Darum erklären wir in diesem Beitrag von Grund aus, was Normung – allgemeiner: technische Regelsetzung – eigentlich ist.
Der Lesbarkeit halber wird statt des allgemeineren Begriffs „Regelsetzung“ im Folgenden der Begriff „Normung“ verwenden. Obwohl es die VDI-Richtlinien in Deutschland schon viel länger gibt als die DIN-Normen, an die alle beim Wort „Norm“ denken.
Eine „Norm“ ist etwas, das sich als „normal“ etabliert hat. Es hat einen Evolutionsprozess hinter sich, in dessen Verlauf, ganz wie bei Darwin, viele „Abweichungen“ durch Selektion bereits ausgemerzt wurden. Das Normal oder der Standard ist also per se schon etwas Gutes. Nicht die Premium-Lösung, aber eben doch etwas, das sich bewährt hat, da es funktioniert.
Normen gibt es viele, um nur ein paar Beispiele zu nennen:
- Soziale Normen sagen uns, was man im Umgang mit anderen Menschen tut und lässt.
„Man bohrt im Gespräch nicht in der Nase.“ - Rechtsnormen, aka Gesetze, sagen uns, was verboten ist.
„In geschlossenen Ortschaften fährt man nicht schneller als 50 km/h.“ - Technische Normen – und nur über die rede ich im Folgenden noch – beschreiben die technischen Merkmale von Produkten oder technische Prozesse.
„Damit ein WC gut von Klein und Groß und Dick und Dünn zu benutzen ist, soll davor eine Fläche von 60×80 cm frei sein.“
Alle Normen unterliegen der steten Anpassung, da sich Technik entwickelt. Sie können dadurch helfen, neue technische Entwicklungen in die Breite zu bringen.
Was bringen Normen?
Normen sind ein Weg des Wissenstransfers. Durch sie sagen Fachleute anderen Fachleuten, wie man etwas nach Meinung der Mehrheit der Fachcommunity heute üblicherweise macht. Die in einer Norm festgelegten Merkmale gelten auch dann als geschuldet, wenn über die Eigenschaften des gelieferten „Etwas“ nur wenig Spezifisches aufgeschrieben wurde.
Nehmen wir als Beispiel die Richtlinienreihe VDI 6000 „Sanitärräume“. Der Häuslebauer kann heute dem Installationsbetrieb seines Vertrauens den Auftrag geben „Bau mir da ein Bad hin.“ Dann wird dieses Bad, sofern der Installateur die VDI 6000 einhält, auf jeden Fall gebrauchstauglich sein. Aber auch der Träger einer Schule kann ohne allzuviele Überlegungen den Auftrag erteilen „Bau mir für meine Schule mit 1500 Kindern und Jugendlichen Sanitärräume.“ Viele Details – wie viele Toiletten, wo, mit welcher Ausstattung, welche Bewegungs- und Verkehrsflächen … die Liste ist ziemlich lang – regelt die Richtlinie. Wie die oben genannte Fläche vor dem WC, ebenfalls aus dieser Richtlinie.
Aber es gibt immer noch genug Spielraum für individuelle Vorgaben der Schulleitung, wenn sie welche machen möchte, beispielsweise: „Wir möchten inklusive Toiletten, die von allen Menschen, gleich, ob Männlein, Weiblein, divers, Personen mit Mobilitäts- oder anderen Einschränkungen, ohne Probleme genutzt werden können, also bau bitte nicht nur die Mindestanzahl an barrierefreien Toiletten, sondern ein paar mehr.“ Die Beteiligten an einem Projekt sollen – das ist durch Rechtsnormen zwingend vorgeschrieben – mit dem gemeinsamen Interesse am Gelingen des Projekts miteinander reden: Der Auftraggeber soll seine Wünsche und Erwartungen klar formulieren, der Auftragnehmer – die Partei mit dem Fachwissen – soll dem Auftraggeber aufzeigen, was geht und was nicht. Selbst wenn die Vertragsparteien gar nicht miteinander reden, kommt bei Anwendung der Norm etwas heraus, das die grundlegende Funktion erfüllt.
Normen nützen also sowohl dem Auftraggeber als auch den Auftragnehmer.
Ersetzen Normen eigenen Sachverstand?
Wenn doch alles in der Norm steht, braucht man dann noch eigenes Fachwissen? Ja, braucht man. Es steht eben nicht alles in den Normen. Oder anders ausgedrückt: Es sind nicht alle Normen aufgeschrieben. Die geschriebenen Normen bauen auf einem Fundament von Fachwissen und Berufserfahrung auf, das durch Berufsausbildung und -erfahrung erworben werden muss. Sie werden von Fachleuten für Fachleute geschrieben. Die Normenersteller und -anwender haben eine große gemeinsame Basis, über die nicht mehr gesprochen werden muss, weil das „jede“ Person – richtig eigentlich: jede einschlägig qualifizierte Person – weiß, die mit der Norm arbeitet.
Wie entstehen Normen?
Wieso ist Normung, wie in der Überschrift behauptet „gelebte Demokratie“?
Ganz einfach: Normung, gleich, ob beim VDI oder dem DIN, beteiligt alle interessierten Kreise. Schon die übersichtliche Anzahl Menschen, meist nicht mehr als 25, die an der Norm schreiben, sollen sich aus möglichst allen Gruppen rekrutieren, die ein berechtigtes Interesse am Thema haben. Manche Gruppen werden dabei direkt durch Mitglieder dieser Gruppen vertreten, im Beispiel der Schultoiletten sind das Architekteninnen und Sanitärfachplaner und Handwerker und Handwerkerinnen, andere durch Interessenvertretungen, wie Verbraucherschutzorganisationen. Alle Interessen in ausgewogener Weise in einem Kreis von 25 Personen abzubilden kann einiges an Hirnschmalz erfordern. Normer sind daher Netzwerker.
Aber es kommt ja noch besser: Der Ausschuss, die „25“, schreibt nicht einfach etwas auf, und dann ist es „Norm“, sondern er veröffentlicht zunächst einen Entwurf. Dieser wird veröffentlicht, und jede Person, die ihn in die Finger kriegt – wirklich jede! – kann dazu binnen einer bestimmten Frist eine Stellungnahme an den Ausschuss schicken, mit der sich dieser Ausschuss auseinandersetzen muss. Muss! Das steht in den Spielregeln für die Normung[1]. Denn auch für das Erstellen von Normen gibt es Normen. Nur wenn die eingehalten werden, darf das zusammengeschriebene Werk am Ende für sich in Anspruch nehmen, eine VDI-Richtlinie oder DIN-Norm oder, allgemeiner: eine „allgemein anerkannte Regel der Technik“zu sein.
Doch zurück zum Entscheidenden: Jede Person kann eine Stellungnahme abgeben, nicht nur ein elitärer Kreis von Ingenieurinnen und Ingenieuren oder „Fachleuten“. Das bedeutet nicht, dass jede Stellungnahme am Ende angenommen werden muss, aber sie muss gehört und gewürdigt werden. Nur so ist sichergestellt, dass nachher die aus Sicht der überwiegenden Mehrheit der auf aktuellem Stand fortgebildeten Fachleute der interessierten Kreise beste Lösung herauskommt.
Man beachte das Wort „überwiegend“! Es ist der Grund dafür, dass Normen nach dem Konsensprinzip erarbeitet werden.
[1] Beim VDI sind die in der VDI 1000 „VDI-Richtlinienarbeit – Grundsätze und Anleitungen“ nachzulesen, beim DIN in DIN 820 „Normungsarbeit“. Papiere, die nicht nach solchen oder gleichwertigen Regeln erarbeitet werden, müssen nicht schlecht sein, aber sie haben nicht den Anspruch der allgemeinen Anerkennung.
Was ist „Konsens“?
„Konsens“ wird bspw. in der DIN EN 45020 so definiert:
„allgemeine Zustimmung, die durch das Fehlen aufrechterhaltenen Widerspruchs gegen wesentliche Inhalte seitens irgendeines wichtigen Anteils der betroffenen Interessen und durch ein Verfahren gekennzeichnet ist, das versucht, die Gesichtspunkte aller betroffenen Parteien zu berücksichtigen und alle Gegenargumente auszuräumen“
Nehmen wir an, ein Ausschuss habe 25 Mitglieder. Nun hat er eine Frage „0 oder 1?“ zu entscheiden. Man könnte einfach abstimmen, und wenn 13 Personen für 0 stimmen, nimmt man 0. Ist das eine überwiegende Mehrheit? Nein, ganz sicher nicht. Hätte man 25 andere Personen in den Ausschuss aufgenommen, hätte möglicherweise 1 gewonnen.
Bei der Suche nach einem Konsens werden daher Abstimmungen nach Möglichkeit vermieden.
Die Norm merkt ergänzend an: „Konsens bedeutet nicht notwendigerweise Einstimmigkeit.“
In Prosa übersetzt, bedeutet Konsens:
- Wir haben nach Kräften versucht,
- alle Argumente zu würdigen und möglichst auszuräumen und
- alle Interessen zu berücksichtigen und
- haben das weitgehendst geschafft.
Konsens zu finden kann sehr anstrengend sein; auf jeden Fall dauert es länger als ein paar Mehrheitsentscheidungen durch Abstimmung.
Aber ein Konsens ist stark, denn er kann von allen Beteiligten getragen werden. Sie haben ihn alle mit entwickelt, jede Gruppe kennt die Belange der anderen Gruppen und hat sich damit auseinandergesetzt, und man versucht, gemeinsame Lösungen zu finden. Demokratischer geht’s nicht.
Konsens vs. Kompromiss
Warum im Beispiel nicht einfach eine Zahl zwischen 0 und 1 nehmen? Das wäre doch ein Kompromiss. Ja, vielleicht, aber die meisten in der Regelsetzung zu beantwortenden Fragen lassen sich nicht mit einer einfachen Zahl beantworten. Ich erwähne diese mögliche Lösung nur, um den Konsens vom Kompromiss (Duden-Definition: „Übereinkunft durch gegenseitige Zugeständnisse“) abzugrenzen. Der Anspruch beim Konsens ist höher: Gegenargumente werden (möglichst) nicht durch Mittelwertbildung gegeneinander abgewogen, sondern ausgeräumt.
Autor und Ansprechpartner:
Dipl.-Phys. Thomas Wollstein
VDI-Gesellschaft Bauen und Gebäudetechnik
E-Mail-Adresse: wollstein@vdi.de