Mehr Resilienz durch Diversifizierung
Als zu Beginn der Corona-Pandemie die Regale leer blieben, waren die Störungen der Lieferketten für uns alle sichtbar. Aber noch immer ist die Abhängigkeit von einzelnen Zulieferern und Ländern ein großes Problem und das nicht nur im Zusammenhang mit Russland und dem Ukrainekrieg. Darum ergibt sich für die Wirtschaft die Notwendigkeit, Absatzmärkte, Produktionsstandorte und Rohstofflieferanten sehr viel stärker zu diversifizieren. Warum das so ist und wie Lösungen aussehen können, erklärt Dieter Westerkamp, Bereichsleiter VDI Technik und Gesellschaft, im Interview.
In welchen Bereichen – jenseits der Energie – ist das Thema Diversifizierung besonders wichtig?
Westerkamp: Während der Corona-Krise und in den vergangenen Monaten haben wir alle gesehen, wie schnell Lieferketten zusammenbrechen können. Deutlich wurde auch, dass Alternativen sehr häufig nicht verfügbar waren. Darum ist es dringend notwendig, sich breiter und flexibler aufzustellen und auf eine größere Vielfalt zu setzen.
Jedes Unternehmen muss für sich entscheiden, an welchen Stellen eine Diversifizierung mit welcher Priorität erforderlich ist. Ein wesentliches Kriterium ist dabei die Kritikalität, das heißt für welchen Absatzmarkt, für welchen Standort und für welchen Lieferanten gibt es heute keine Alternative und welche Auswirkungen hat dies auf meine Wertschöpfungsketten oder mein Geschäftsmodell. Letztlich geht es um eine größere wirtschaftliche Resilienz, also darum Möglichkeiten zu schaffen, auf Veränderungen bestmöglich reagieren zu können.
Was können Unternehmen tun?
Viele Maßnahmen zahlen auf die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen im Fall von stark negativen äußeren Einflüssen ein:
- Schaffung von nationalen und internationalen Partnerschaften
- Lagerstättenbeschaffung
- Nutzung von mehr lokalen Ressourcen
- Bildung höherer Reserven
- frühzeitige Erfassung von Substitutionsmöglichkeiten für fehlende Stoffe
- Verbrauchsreduktion
- mehr Reparaturen statt Neuanschaffungen
- Erhöhung der Recyclingquoten
Insbesondere beim Aufbau anpassungsfähiger Logistikketten sollten echte solidarische und vertrauensvolle Gemeinschaften geschaffen werden, die sich laufend gegenseitig informieren. Das System funktioniert, wenn alle Beteiligten eingebunden sind und Vorteile daraus generieren. Es ist also nicht zielführend, wenn jedes Unternehmen nur für seine eigene Versorgung kämpft.
Aus Sicht der Gesellschaft sollten Maßnahmen vorrangig dort vorgenommen werden, in denen es um den täglichen Bedarf geht, zum Beispiel bei der medizinischen Versorgung und bei Lebensmitteln.
Pandemien oder Kriege machen Probleme erst sichtbar
Derzeitige, staatlich geförderte Diversifizierungsversuche betreffen meist einzelne Bereiche von Lieferketten. Sind für die Unternehmen die Lieferketten überhaupt ausreichend klar, um zu entscheiden, was wie betriebskritisch ist und deshalb womöglich eine Diversifizierung benötigen würde?
Westerkamp: Nein, es hat sich herausgestellt, dass Unternehmen in vielen Fällen nicht wissen, an welchen Stellen sie verwundbar sind. Zunächst muss also die nötige Transparenz zur Erkennung potenzieller Versorgungsrisiken geschaffen werden, denn die Risiken sind in sehr vielen Fällen nicht offensichtlich. Erst Ereignisse, mit denen niemand gerechnet hat, wie Pandemien oder Kriege, machen Probleme erst sichtbar. Entsprechende Risiken hatte niemand kalkuliert.
Die EU hat wegen der Abhängigkeit Europas insbesondere von Asien ihre Mitgliedstaaten mit ihrem Strategic Foresight Report (2021) aufgefordert, mittels „sektoraler Dashboards“ ihr Resilienzniveau kontinuierlich zu erfassen. Geeignete Indikatoren müssen hier noch definiert werden. Letztlich müssen Unternehmen mit ihren Lieferanten selbst aktiv werden, um eine vollständige Transparenz über ihre individuelle Abhängigkeit von Lieferketten zu erlangen.
In vier von fünf Betrieben leidet die Produktion. Welche Industrien sind aus Ihrer Sicht besonders betroffen, weil eine große Abhängigkeit von einzelnen Staaten besteht?
Westerkamp; Vom Mangel an Elektronikbauteilen ist insbesondere die Automobilindustrie aber auch der gesamte Maschinenbau betroffen. Vier von fünf Betrieben sagen, dass sie unter Einschränkungen in der Produktion leiden – verbunden mit entsprechenden Umsatzeinbußen. In der Elektroindustrie liegt die Quote bei 90 Prozent. Hinzu kommt, dass die Einkaufspreise durchschnittlich um mehr als 40 Prozent gestiegen sind.
Engpass Seltene Erden
Darüber hinaus hat die EU im September 2020 einen Aktionsplan zu kritischen Rohstoffen ausgearbeitet. Darin sind insgesamt 30 Elemente aufgezählt, für die keine sichere und nachhaltige Rohstoffversorgung vorausgesetzt werden kann. Allein für die Batterien von Elektrofahrzeugen und zur Energiespeicherung wird Europa bis 2050 bis zu 60-mal mehr Lithium benötigt. China kontrolliert weltweit rund 90 Prozent des Angebots an Seltenen Erden. Dies sind Rohstoffe, die auch zur Produktion von Elektronik-Chips gebraucht werden. Aufgrund der Abhängigkeiten will die EU mit einem 43 Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm erreichen, dass zumindest 20% der Chips wieder in Europa hergestellt werden. Mit Investitionen von 600 Milliarden Euro durch die G7-Länder soll zudem sichergestellt werden, dass Rohstoffe für die Herstellung wichtiger Elektronik-Bauteile in Afrika eingekauft werden können. Doch der Aufbau zusätzlicher Kapazitäten ist nicht nur kapitalintensiv, sondern auch sehr zeitintensiv. Mit einer schnellen Umsetzung ist also nicht zu rechnen.
„Wer die Norm hat, hat den Markt!“ Die Konkurrenz hat die Standardisierung mehr in den Fokus der Bundesregierung und auch der EU gerückt. Ist es Zeit für ein Umdenken?
Westerkamp: Dies ist schon sehr lange Zeit ein Thema, das seit wenigen Jahren durch das massive Auftreten Chinas in Standardisierungsgremien neue Relevanz erhalten hat. Standardisierung bedeutet nicht nur technische Spezifikationen oder Schnittstellen einheitlich zu beschreiben. Nein, Standardisierung ist eine strategische Aufgabe, um eigene Produkte auf der Basis von eigenen Ideen oder neuen Technologien und Prozessen frühzeitig in den Markt bringen zu können. Dabei geht es darum, sich auf internationaler Ebene an der Normung zu beteiligen und sich auch durchzusetzen. Es heißt immer „Wer die Norm hat, hat den Markt!“ Dieser Satz bestätigt sich täglich. Dies hat die EU verstanden und hat daher in der Europäischen Normungsstrategie verstärkt betont, Standardisierung auf internationaler Ebene intensiver zu fordern und zu unterstützen. Es geht dabei auch um Schutz Europäischer Märkte.
Handlungsbedarf gibt es dabei für alle Unternehmen, da es grundsätzlich darum geht, eigene Produkte und Unternehmen in den Markt bringen zu können. Dabei hilft Standardisierung!
Ansprechpartner im VDI:
Dipl.-Ing. Dieter Westerkamp
Bereichsleiter VDI Technik und Gesellschaft
Telefon: +49 211 6214-296
E-Mail: westerkamp@vdi.de