Industrielle Produktentwicklung
Die industrielle Produktentwicklung steht unter Druck: Produkte schnell, zuverlässig und kostengünstig zu konzipieren, abzusichern und herstellbar zu machen ist zentral und grundsätzlich. Daran hat sich damals wie heute nichts geändert. Was sich verändert, sind die wirkenden Faktoren und Umweltbedingungen. Das provoziert gewisse Anpassungsbedarfe, die sich in neuen Herangehensweisen zeigen. Diese kommen in verschiedener Gestalt daher; etwa neue Verfahren, Methoden oder Organisationsmodellen. Zunehmend verbreitet ist die Agile Produktentwicklung.
Agile Softwareentwicklung als Vorbild
Innerhalb des Konzeptes "Agile" spielt die Scrum-Methode eine zentrale Rolle für die Organisation des Entwickelns und der Zielgebung. Die Softwareentwicklung hat hier eine Anwendungspraxis von 20 Jahren (Agile Manifesto 2001) und mittlerweile vielfältige Tools zur Unterstützung entwickelt und kommerzialisiert. Wie sieht es aber mit der Anwendbarkeit in der Welt der Bauteilentwicklung, der Konstruktion, der Mechatronik oder der cyber-physischen Systeme aus?
Der große Unterschied zur Softwareentwicklung ist die physikalische Körperlichkeit der Bauteile, welche der möglichen Funktionalität, der Herstellbarkeit und der Einsatzdauer Grenzen setzt. Dieser Unterschied lässt sich in den Constraints of Physicality (Einschränkungen durch Körperlichkeit) zusammenfassen. Darin spiegelt sich das ganze Wissen der Ingenieure, ein „Ding“ zu bauen. Daraus ergeben sich Fragen zur Operationalisierung agiler Vorgehensweisen und Frameworks, die sich noch immer stark an die Softwareentwicklung anlehnen. Ist der Slogan "SCRUM - Doing twice in half the time" von Dr. Jeff Sutherland realisierbar? Muss möglicherweise alles darauf abgestellt werden?
Constraints of Physicality vs. Agile Produktentwicklung?
Ein guter Ansatz für die Antwortsuche ist der Blick in die Praxis der industriellen Produktentwicklung. Aktuelle Daten speziell aus der deutschsprachigen Welt der mechatronischen Produktentwicklung zeigen, dass sich die Scrum-Methode über die Jahre als Quasi-Standard etabliert hat. Aktuelle Ergebnisse einer Umfrage zeigen eine Anwendung von mehr als 80% (Studie 2021).
Lässt sich daraus schließen, dass die Constraints of Physicality keine Rolle spielen? Wie wird es denn angewendet oder umgesetzt?
Es zeigt sich, dass 95% der Befragten einen Anpassungsbedarf agiler Vorgehensmodelle/ Frameworks bejahen! 8 von 10 bejahen sogar einen Anpassungsgrad von 50 oder mehr Prozent. Offensichtlich sind Randbedingungen der mechatronischen Produktentwicklung von größter Bedeutung. Dass eine Adaption notwendig ist, scheint wenig überraschend, da simples „Übernehmen“ in eine bestehende Organisation eher Abstoßung erzeugt. Die Notwendigkeit der geführten Veränderungsprozesse ist unbestritten.
Jedoch sind hier eben auch die physikalischen Randbedingungen entscheidend. Fertigungsverfahren und Zulieferketten haben andere Zeitintervalle jenseits der modellhaft geführten zwei Wochen Sprints. In der Mechatronik sind gestaffelte Intervalle für die Scrum-Methode wie Sprint, Inkrement und Etappe als Adaption gebräuchlich. Die Constraints of Physicality machen dies notwendig.
Spezielle Wege in der Entwicklung mechatronischer Systeme
Der Grad der Adaption ist jedoch erstaunlich groß. Es deutet sich an, dass hierdurch sogar proprietäre Praktiken entstanden sind, wenn vom Ursprünglichen nur weniger als 25% übernommen wird (2 von 10 Befragten). Hierin könnte sich ein Weg zu einem nicht kopierbaren
Wettbewerbsvorteil verbergen, da kaum anzunehmen ist, dass Unternehmen darin keinen Vorteil sehen, solche gravierenden Anpassungen vorzunehmen.
Aber wie kann ein Entwicklungssystem insgesamt gestaltet werden, welches vorhandene Entwicklungsprozesse fortführt und eine Anbindung agiler Arbeitsweisen ermöglicht?
2021 geben 60 % an, in agilen oder hybriden Entwicklungssystemen zu arbeiten
(Studie 2021). Als Hybride sind hier Mischsysteme zur Durchführung von Produktentwicklungen gemeint, die vorhandene erprobte Vorgehensweisen mit agilen Ansätzen kombinieren. Die Anwendung von Scrum als dominierende Methode bedeutet also nicht, dass alle anderen Methoden, Prozesse und Routinen nicht mehr genutzt werden. Hybride sind offensichtlich die Realität. Als Strategie zur Anpassung ist das verständlich. Denn es gibt keine Hinweise, dass größere Radikalität zu mehr Erfolg führt.
Balance zwischen Beweglichkeit und Routine
Die Transformation der Produktentwicklung hin zu adaptierten Hybrid-Produktentwicklungsprozess-Systemen ist konstant zu beobachten und keine kurzfristige Übergangslösung. Dies belegen unsere Umfragedaten der letzten fünf Jahre und vielfältige Projekte mit Industriekunden (Studien 2017 – 2021). Sie sind Lösungen für die Herausforderungen im Ganzen.
Die Antwort aus erhobenen empirischen Daten der industriellen Praxis innerhalb des deutschsprachigen Raums Deutschland, Österreich und Schweiz für den Entwicklungsdruck in der mechatronischen Welt liegt in der Balance zwischen neuer Beweglichkeit und bekannter Routine. Hier setzt auch das Agile Manifest an. Es beschreibt eine Balance, die Routinen nicht ausschließt, sondern die Einschätzung einer Vorzugsrichtung anbietet (We value more, than …). Wir alle wissen, dass Präferenzen zu haben nicht bedeutet, anderes vollständig auszuschließen.
Hybride, adaptierte Produktentwicklungssysteme sind erfolgreich. „Alles Agile“ zeichnet sich aktuell nicht in der industriellen Praxis der mechatronischen Produktentwicklung ab. Insgesamt zeigen die Daten, dass das Konzept der Agile Produktentwicklung in der physikalischen Welt der Produkte weiter voranschreitet, und dabei eigene Pfade und Prägungen gegenüber den Ursprüngen ausbildet.
Autoren: Marvin Michalides, Dr.-Ing. Stefan Weiss, Prof. Dr.-Ing Kristin Paetzold
Ansprechpartnerin im VDI:
Dr.-Ing. Daniela Hein
VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung
E-Mail: hein@vdi.de