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Schwerpunktthema Urbane Kaltluft

Flechten und Moose als Thermometer-Ersatz

Bild: Stapper

Als Folge des Klimawandels nimmt die durchschnittliche Zahl der Hitzetage immer weiter zu. Insbesondere in Städten führt dies zu einer erhöhten Belastung der Bewohner. Die Kenntnis der Lage von Wärmeinseln aber auch kühlen Orten in der Innenstadt ist daher für die Stadtplanung wertvoll, um gezielt Entlastung für die Bevölkerung schaffen zu können. Das Kleinklima in Städten kann dabei nicht nur durch Temperaturmessungen, sondern auch durch die dort wachsenden baumbewohnenden Flechten und Moose bestimmt werden.

In der Nacht strahlen Gebäude ihre gespeicherte Wärme ab. In dicht bebauten Innenstädten bleibt es dann oft wärmer als 20 °C und die erhoffte Abkühlung bleibt aus. Die nächtlichen Temperaturen bodennaher Luftschichten im Zentrum einer Großstadt und den Freiflächen im Außenbereich unterscheiden sich daher teils erheblich, im Fall von Düsseldorf beträgt der Unterschied über 7 °C (Klimaanalyse der Landeshauptstadt Düsseldorf von 2020).

Flechten und Moos zeigen Hitzeinseln an

Welche Wirkung diese innerstädtische Überwärmung auf Organismen entfaltet, lässt sich durch Biomonitoring erfassen. Hierfür eignen sich baumbewohnende (= epiphytische) Flechten und Moose ideal. Denn durch die standardisierte Auswahl von Trägerbäumen und die Baumart-spezifischen Eigenschaften ihrer Rinde lassen sich die jeweiligen Wuchsbedingungen der Epiphyten am Baumstamm jederzeit exakt reproduzieren. Sowohl Flechten als auch Moose benötigen zur Photosynthese Wasser, das sie unter anderem direkt aus feuchter Luft oder Tauniederschlag gewinnen. Dies gelingt aber nur dann, wenn die relative Luftfeuchte am Trägerbaumstandort im relevanten Zeitfenster, z. B. in den sehr frühen Morgenstunden, ausreichend hoch bleibt. Mit zunehmender stadtklimatischer Überwärmung der Baumstandorte nimmt die relative Luftfeuchte jedoch ab, für die Epiphyten werden die Überlebensbedingungen entsprechend rauer, und im Zentrum der urbanen Hitzeinsel überleben langfristig meist nur noch wenige robuste Arten.

Hitzetag: Tag mit einer Lufttemperatur ≥ 30 °C

Tropennacht: Nacht mit einer Lufttemperatur ≥ 20 °C

Stadtklima: Die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) definiert das Stadtklima als ein „lokales Klima, das sich aufgrund der Auswirkungen von Gebäuden und Emissionen vom Klima der Umgebung unterscheidet“.

Flechten sind symbiotische Lebensgemeinschaften, die aus einem oder mehreren Pilzen, den Mykobionten, und einem oder mehreren zur Photosynthese befähigten Organismen, den Photobionten, bestehen. Letztere sind Grünalgen oder Cyanobakterien. Erst durch die Bildung des gemeinsamen Lagers, in dem die Photobionten von den Pilzhyphen buchstäblich eingeflochten werden, können die Partner teils extreme Lebensräume besiedeln, in denen einer allein nicht überleben könnte. Der eine liefert Photo­syntheseprodukte, der andere bietet Schutz vor Fraß oder Strahlenschäden und ermöglicht z. B. den Zugang zu Mineralien aus dem Substrat.

Moose sind kleine grüne Landpflanzen, die kein Stütz- und Leitgewebe ausbilden, und deren Blättchen meist nur eine Zellschicht dick sind.

Moose und Flechten sind wechselfeucht und beziehen Wasser aus Regen, Tauniederschlag oder Luftfeuchte über ihre gesamte Oberfläche und können darin ggf. enthaltene Schadstoffe nicht ausschließen. Deshalb reagieren sie rasch und artspezifisch unterschiedlich auf chemische und physikalische Veränderungen ihrer Umwelt.

Richtlinie VDI 3957 Blatt 22 "Erfassung der Wirkungen von Stadtklima"

Im aktuellen Richtlinienprojekt „Kartierung von Stadtklimawirkungen“ widmet sich der Normenausschuss „Wirkungsfeststellung an Niederen Pflanzen“ der VDI/DIN-KRdL genau diesem Thema (VDI 3957 Blatt 22). Unser Autor, Dr. Norbert Stapper, ist Mitglied des Richtlinienausschusses und stellt hier einige seiner Untersuchungsergebnisse aus Düsseldorf vor, die die Wirkung des Stadtklimas auf lebende Organismen veranschaulichen. In den zwischen 2003 und 2019 erfolgten Studien wurden Flechten, Moose und Luftalgen an unter standardisierten Bedingungen (VDI 3957 Blatt 13 "Kartierung der Diversität epiphytischer Flechten als Indikator für Luftgüte"  und Blatt 20 "Kartierung von Flechten zur Ermittlung der Wirkung von lokalen Klimaveränderungen") ausgewählten Bäumen aufgenommen.

Düsseldorfer Studie zu Stadtklimawirkungen

In einer speziell auf Stadtklimawirkungen zielenden Studie wurden 2019 entlang von drei Transekten durch Düsseldorf, die aus der überwärmten Innenstadt bis in die nächtlich kühlen Außenbereiche der Stadt reichen und etwa 10 % des gesamten Stadtgebietes entsprechen, 68 Flechten- und 24 Moosarten sowie zwei Algengattungen nachgewiesen und deren Frequenzwerte mit Zählgittern bestimmt. Für eine Großstadt ist das eine enorme Artenvielfalt, wenn man berücksichtigt, dass nur Artvorkommen an vertikalen Stammflächen weniger Baumarten erfasst wurden!

Mit statistischen Methoden konnten gegenüber der Wirkung des Stadtklimas sensitive („urbanophobe“) Arten von solchen abgegrenzt werden, die mit steigender Überwärmung und zunehmenden, stadttypischen Immissionen als letzte an den Bäumen übrigblieben, also gegenüber den Wirkungen des Stadtklimas als resistent einzustufen sind.

Bild 1 zeigt das bodennahe Temperaturfeld der Stadt Düsseldorf südlich der Innenstadt und die Frequenzsummen der sensitiven (blaue Kreise) bzw. resistenten Arten (rote Kreise) an den untersuchten Bäumen: Je höher die nächtliche Temperatur am Baumstandort, desto geringer die Frequenzsummen der sensitiven Arten.

„Sogar die lokal abkühlende Wirkung einer kleinen Grünanlage im Stadtteil Oberbilk wird im westlichen Rasterquadrat erkennbar.“ bemerkt Norbert Stapper. Die resistenten Arten – darunter die „Stadtpflanze des Jahres 2021“ Phaeophyscia orbicularis (botanik-bochum.de/jahrbuch/Portraet_Phaeophyscia_orbicularis.pdf), eine Flechte! – verhalten sich entgegengesetzt und sind an den Alleebäumen in überwärmten, schluchtartigen Durchgangsstraßen (z. B. Stadtteil Oberbilk, östliches Rasterquadrat) mit besonders hoher Frequenz vertreten.

Wärmeliebende Flechten breiten sich aus

Neben räumlichen Unterschieden in der Artenzusammensetzung lassen sich aus den wiederholten Untersuchungen in Düsseldorf auch Veränderungen über die Zeit ablesen. „Arten kühler Habitate sind seltener und warmadaptierte Arten häufiger geworden.“ so Norbert Stapper.

Bild 2 zeigt dies am Beispiel der Blattflechte Parmelia sulcata, die bisher in allen Städten, die kürzlich von Mitgliedern des Richtlinienausschusses in Vorstudien untersucht wurden, zu den „urbanophoben“, also gegenüber Stadtklimawirkungen sensitiven Arten zählt. Im Düsseldorfer Klimawandelfolgenmonitoring kommt Parmelia sulcata an den kühlen Messstationen „Nord“ und „Süd“ seit 2003 nahezu unverändert häufig vor. An den überwärmten Stationen „City“ und „Hafen“ brechen ihre Populationen dagegen immer stärker ein, wahrscheinlich infolge zunehmender städtischer Überwärmung innerhalb der zwei Jahrzehnte.

Fast entgegengesetzt verhält sich die erst 2002 in Nordrhein-Westfalen nachgewiesene Blattflechte Punctelia borreri  (Bild 3), die wahrscheinlich aus dem Mittelmeerraum nach Mitteleuropa gelangt ist und an allen Stationen immer häufiger vorkommt.

Biomonitoring Hilfe für Stadtplanung

Norbert Stapper sieht in dem laufenden Standardisierungsprojekt ein geeignetes Instrument für die Klimaanpassung in Städten: „Mit Blick auf das Anwendungsgebiet der geplanten Richtlinie zur Kartierung von Stadtklimawirkungen besteht die momentane Aufgabe unserer Arbeitsgruppe darin, überall in Deutschland geeignete Indikatorarten festzulegen bzw. ein reproduzierbares Verfahren zu beschreiben, anhand dessen sich projektspezifische Indikatorarten insbesondere für die kühlen Gebiete in einer Stadt identifizieren lassen.“ Deren Lage genau zu kennen kann in der stadtplanerischen Nutzungsabwägung von entscheidender Bedeutung sein. Werden die kühlen Gebiete geschützt, kann weiterer Überwärmung vorgebeugt und Lebensqualität erhalten werden. Darüber hinaus können die Ergebnisse des Biomonitorings z. B. dazu beitragen, Bemühungen seitens der Städte, Klimafolgen zu mindern, zu überprüfen oder bestehende Defizite im Stadtgebiet zu identifizieren.

Autor: Dipl. Biol. Dr. Norbert J. Stapper ist Mitglied im Normenausschuss „Wirkungsfeststellung an Niederen Pflanzen“ der VDI/DIN-KRdL und führt im Rahmen des städtischen Klimafolgenmonitorings für die Stadt Düsseldorf Flechtenkartierungen durch (E-Mail: nstapper@moose-flechten-umwelt.de; www. Moose-Flechten-Umwelt.de)

Ansprechpartnerinnen im VDI:

Dipl.-Umweltwiss. Ruth Heesen
KRdL-Fachbereich Umweltqualität
E-Mail: heesen@vdi.de

Dipl.-Geogr. Catharina Fröhling
VDI-Fokusthema Anpassung an den Klimawandel
E-Mail: klimaanpassung@vdi.de

1) Die mit Zählgittern bestimmte Frequenz einer Art kann an einem Baum maximal 20 betragen. Blaue Kreis geben die Frequenzsummen (FSUM) aller sensitiven Arten an, rote Kreise die Frequenzsummen der resistenten Arten, jeweils Moos- oder Flechtenarten bzw. Klebsormidium crenulatum oder Trentepohlia sp. Kartenhintergrund: Nächtliches Temperaturfeld in einem Ausschnitt des Düsseldorfer Stadtgebietes (Klimaanalyse der Landeshauptstadt Düsseldorf 2020; Kartografie: GEO-NET Umweltconsulting GmbH).

2) Datengrundlage: Flechtenvorkommen an 53 Bäumen 2003 bzw. 99 Bäumen 2008 bis 2023. Mittlere Temperatur an den Stationen ([°C], 2019; MW mit Standardfehler): Nord: 18,9 ± 0,2; City: 20,5 ± 0,3; Hafen: 20,9 ± 0,2 Süd: 19,0 ± 0,1. Quelle: Klimafolgenmonitoring der Landeshauptstadt Düsseldorf (ulfschmitz.de/Klimafolgenmonitoring_Duesseldorf_2023_Gesamtgutachten.pdf). Grafik und Foto: Stapper.

3) P. borreri ist eine der 45 Indikatorarten für Wirkungen des Klimawandels („Klimawandelzeiger“) gemäß VDI 3957 Blatt 20. Datengrundlage und Quelle siehe Bild 2. Grafik und Foto: Stapper.

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