Bausicherheit: Europäische Normungsarbeit ist komplex
Nach dem großen Erdbeben der Stärke 7,8 im Südosten der Türkei und in Teilen Syriens wird die Frage nach erdbebensicheren Bauten erneut laut. VDI-Experte Dr.-Ing. Franz-Hermann Schlüter beantwortet die wichtigsten Fragen und bemängelt die Komplexität der Normungsarbeit.
Das schwerste Erdbeben seit dem Jahr 1939: Die Türkei wird zwar immer wieder von Erderschütterung heimgesucht, doch laut den Messungen des United States Geological Survey (USGS) übertrifft das Erdbeben Anfang Februar das damalige Ereignis von Erzincan. 1939 wurde eine Stärke von 7,7 gemessen.
Warum kommt es in der Türkei oft zu Erdbeben?
Die Türkei liegt unter anderem auf der Anatolischen Kontinentalplatte, die sich mit der nach Norden drängenden Arabischen Platte reibt. Dadurch entsteht eine sogenannte Transformstörung. Gestein verhakt und Energie staut sich auf. Sobald die freigesetzte Energie die Festigkeit des Gesteins überschreitet, entsteht ein Bruch – die Erde bebt. Durch die südöstliche Türkei zieht sich die “ostanatolische Verwerfung”, sodass die betroffene Region an einer Transformstörung liegt. Diese ostanatolische Störungszone zieht sich über 550 km.
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Interview Bausicherheit: Normungsarbeit wird immer komplexer
Dr.-Ing. Franz-Hermann Schlüter, Geschäftsführer und Prüfingenieur für Bautechnik bei SMP Ingenieure im Bauwesen GmbH, beantwortet zentrale Fragen der Bausicherheit. Er ist in der VDI-Gesellschaft Bauen und Gebäudetechnik aktiv und befasst sich unter anderem mit Normierungen im Bereich des erdbebensicheren Bauens.
Worin liegen die Fehler, wenn Gebäude nicht erdbebensicher sind?
Schlüter: Grundsätzlich kann man sagen, dass Gebäude erdbebensicher gebaut werden können, sofern die relevanten Normen eingehalten und Vorsorgemaßnahmen getroffen wurden. Durch die bei einem Erdbeben entstehenden Erschütterung wird Energie in die Gebäude getragen und hier muss es das Ziel sein, diese Energie durch möglichst viele Bauteile im Bauwerk verteilt wieder aufzunehmen – beispielsweise durch plastische Verformungen. Wenn sich die Energieeintragungen nur auf wenige Bauteile konzentrieren, können diese leicht versagen. Natürlich spielt auch die Wirtschaftlichkeit eine Rolle. Nicht jedes Gebäude kann wie ein hochsicheres Kernkraftwerk ausgelegt werden. Schutz für Leib und Leben lautet prinzipiell die Devise. Am wichtigsten ist es, dass Personen nach einem Erdbeben aus dem Gebäude herauskommen, ohne dass alles eingestürzt ist. Gebrauchsfähigkeit wird an das Haus dann nicht mehr gestellt. Tatsächlich ist das oft ein Missverständnis. Ein erdbebensicheres Gebäude ist nicht zwingend ein Investitionsschutz. Schutz der Menschen ist das oberste Ziel.
Wie entwickelt sich erdbebensicheres Bauen? Gibt es Innovationen?
Schlüter: Die Grundtechniken haben sich in den letzten Jahren nicht verändert. Was eine größere Rolle spielt, ist die sogenannte Ertüchtigung von Bauwerken. Der Ansatz ist hier, nicht jedes Gebäude in einem erdbebengefährdeten Gebiet wieder neu zu bauen, sondern zu ertüchtigen. Hier gibt es Entwicklungen von Verstärkungsmaßnahmen wie eingeklebte Bewehrung oder eingebrachte Faserwerkstoffe. Europaweit bestehen hier auch Vorschriften. Je nach Region werden diese jedoch – so mein Eindruck – unterschiedlich umgesetzt. In Deutschland herrscht beispielsweise das Vier-Augen-Prinzip. Ein Prüfingenieur oder eine -ingenieurin kontrollieren die Ausführung. Das gibt es in den meisten Ländern nicht.
Was war das stärkste Erdbeben der Welt?
Seit Beginn der Aufzeichnung zählt das Erdbeben in Chile von 1960 mit einer Stärke von 9,5 als das größte Erdbeben der Welt. Die schlimmsten Schäden richten Erdbeben in Regionen an, die zu wenig auf Naturgewalten vorbereitet sind. Erdbebensichere Gebäude, Frühwarnsysteme und eine stabile Infrastruktur sind Faktoren, um die zivile Sicherheit zu gewährleisten.
Welche Erdbebennormen gibt es denn?
Schlüter: Die Erdbebennorm in Deutschland ist die DIN 4149 aus dem Jahr 2005. Zunächst sollte diese durch den Eurocode 8 abgelöst werden, doch darin gab es noch einige Regelungen, die für uns in der Praxis nicht anwendbar waren. Ein aktuell neu erstellter nationaler Anhang soll nun den Eurocode 8 ergänzen. In diesem Zusammenhang wurden neue Erdbebengefährdungskarten für Deutschland erstellt, bei denen geophysikalische Modelle miteinbezogen sind. Störzonen lassen sich in der Erdkruste erfassen und die Ausbreitung der Erschütterungen berechnen – ein aufwändiger Prozess. Diese Methodik kommt in der Zwischenzeit europaweit zum Einsatz. Im Laufe des Jahres könnte es nach meinem Kenntnisstand zur Anwendung des neuen nationalen Anhangs zum Eurocode 8 in der Baupraxis kommen.
Klingt komplex. Blickt man da als Ingenieur oder Ingenieurin noch durch?
Schlüter: Tatsächlich wird es immer komplexer und in der Praxis ist das teilweise für Ingenieure und Ingenieurinnen schwer umsetzbar. Lieber einfach und anwendbar. Zahlreiche neue Regelungen, die in Eurocodes und Co. Eingang finden, sind nicht praxiserprobt. Einige Mitgliedsvertreter und auch Hochschulvertreter bringen ihre Forschungsergebnisse ein, was gut ist. Jedoch ist es oft nicht geprüft, ob diese Regelungen zusammenpassen und anwendbar ist. Das ist nicht gut. Daher sind auch andere deutsche Kollegen und Kolleginnen nicht zufrieden mit der europäischen Normungsarbeit.
Was ist beim Wiederaufbau essenziell?
Schlüter: Die technischen Regeln zum erdbebensicheren Bauen müssen konsequent umgesetzt werden. Für einige wichtige Bauwerke muss außer der Standsicherheit zum Schutz vor Leib und Leben auch die Gebrauchsfähigkeit nach einem Erdbeben gewährleistet sein. Aus eigener Erfahrung kann ich von einem Bauprojekt in Istanbul berichten. Dort haben wir drei große Krankenhäuser erdbebensicher ausgelegt. Diese sind auf einer seismischen Isolierung gebaut, das heißt eine schwimmende Lagerung auf nachgiebigen Lagern im Fundamentbereich. Da bleibt das Krankenhaus erstmal stehen, auch wenn die Erde wackelt, da die Bewegung des Krankenhauses von der der Erde abgekoppelt ist. Pro Krankenhaus kostet das aber auch ca. zehn Millionen Euro. Es ist aber erforderlich wie notwendig.
Autorin: Sarah Janczura
Ansprechpartner im VDI:
Dipl.-Ing. (FH) Frank Jansen
VDI-Fachbereich Bautechnik
E-Mail: jansen_f@vdi.de