"Wir brauchen die Automatisierung der Entscheidung"
Die Industrie braucht KI-basierte Maschinen, die (mit-)entscheiden können. Doch was bedeutet das im und für den Produktionsalltag? Bis zu welchem Grad ist sie sinnvoll? Im Gespräch mit dem VDI geben Dagmar Dirzus, Geschäftsführerin der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik und Christian Gülpen, Leiter Unternehmenskooperationen/ Bereichsleiter Digitalisierung, Technologie- und Innovationsmanagement, RWTH Aachen, die passenden Antworten.
VDI: Frau Dr. Dirzus, was ist mit der „Automatisierung der Entscheidung“ gemeint?
Dirzus: Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Regal mit 400 Joghurt- und Quark-Sorten – wie treffen Sie da eine Entscheidung und nach welchen Kriterien? Jetzt nehmen wir eine sehr einfache Software-unterstützte Entscheidungshilfe, die Ihnen im ersten Schritt nur zwei Entscheidungsmöglichkeiten lässt – also zum Beispiel Joghurt oder Quark.
Im zweiten Schritt bleiben acht Möglichkeiten übrig: mit Früchten, mit Müsli, mit Nüssen, süße Varianten, Natur, jeweils inklusive Kombinationen. Und nehmen wir an, Sie wählen „süße Varianten“, dann können Sie sich danach zwischen 7 Varianten (Honig, Schokolade, Mokka, Karamell usw.) entscheiden. Im letzten Schritt entscheiden Sie sich für die Firma und den Preis, der erst jetzt angezeigt wird – hier haben Sie beispielsweise vier Optionen.
Dann haben Sie in vier kurzen Schritten Ihr Produkt aus über 400 Varianten gefunden. Die nächsten Male lernt der Algorithmus Ihre bevorzugten Sorten kennen und weiß, dass Sie allergisch auf Haselnüsse reagieren oder bestimmte Firmen oder Zuckergehalte ausschließen. Die Entscheidungswege werden kürzer und Sie wahrscheinlich zufriedener.
Nun brauchen Sie eine solche Entscheidungsunterstützung wahrscheinlich nicht im Supermarkt, aber vielleicht haben Sie einen großen Bedarf an Unterstützung, wenn Sie Einkäufer für Durchflussmessgeräte in der Pharma-Industrie sind.
VDI: Gibt es eine solche Entscheidungsunterstützung nicht längst in den Unternehmen?
Dirzus: Sie finden schon einige Unternehmen, die für die Vorauswahl vor allem komplexer Geräte solche Hilfen anbieten. Aber diese Hilfen sind immer herstellerspezifisch. Und das bedeutet, dass Sie sich als Einkäufer zuerst für das Unternehmen, von dem Sie das Gerät beziehen wollen, entscheiden müssen. Erst dann arbeiten Sie sich mühsam durch verschiedene und zum Teil komplexe Möglichkeiten hindurch. Und am Ende stellen Sie nicht selten fest, dass das von Ihnen Gewünschte hier nicht angeboten wird. Also fangen Sie beim nächsten Unternehmen wieder von vorne an.
VDI: Und was ist dann die Lösung?
Dirzus: Sie brauchen eine herstellerunabhängige Plattform, auf der Sie – wie im Beispiel mit den Joghurts beschrieben – mit einfachen Entscheidungshilfen pro Ebene und über nicht zu viele Ebenen hinweg zu den Produkten kommen, die Ihre Anforderungen erfüllen. Erst im letzten Schritt entscheiden Sie sich für das Unternehmen und damit für die Garantieleistung, das Qualitätsversprechen und den Preis.
Das hätte auch den Vorteil, dass sich Start-ups und kleinere Unternehmen neben großen Unternehmen gleichberechtigt positionieren können. Das erleichtert den Markteintritt in genau die Nische, in der die „Kleinen“ Technologie-Führer sind.
Wichtig ist dabei, dass Sie erstens die „richtige“ Zahl an Entscheidungsmöglichkeiten und eine vertretbare Menge an Ebenen anbieten.
VDI: Ob und falls ja wie weiß der Kunde, welche Entscheidung er auf welcher Ebene treffen muss, um an das für ihn passende Produkt zu kommen?
Gülpen: Auf der Angebotsseite muss der Kunde in diesem Prozess so geführt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, eine „falsche“ Auswahl zu treffen, minimiert wird. Das ist ein wesentlicher Teil der Arbeit, die der Anbieter des Konfigurators, wenn wir ihn so nennen wollen, zu leisten hat. Das ist zugleich ein wichtiges Differenzierungsmerkmal gegenüber potenziellen Konkurrenten.
Kunden schätzen einen gut gemachten Konfigurationsprozess oftmals sogar als Teil des Gesamterlebnisses, allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Eine der Herausforderungen in diesem konkreten Prozess kann es sein, den Konfigurator so zu gestalten, dass auch Industriekunden mehr als „nur“ ein schneller Weg zum optimalen Bauteil geboten wird – und damit zusätzliche Anreize für die Nutzung des Angebots zu liefern.
Auf der Nutzerseite ist es oft so, dass die Kunden ihre genauen Bedürfnisse meistens gar nicht richtig kennen. Wer sich privat schon einmal einen Sportschuh konfiguriert hat, kennt vielleicht das Erlebnis, dass er sich während des Konfigurationsprozesses erst richtig klar darüber wurde, welche Eigenschaften, Designs usw. ihm wirklich wichtig sind.
Ein gut gemachter Konfigurator hilft dem Kunden, seine Anforderungen richtig zu „beschreiben“ und mit der Angebotsseite abzugleichen. Neue technische Entwicklungen, beispielsweise aus der KI-Forschung, liefern uns dazu neue Möglichkeiten. Die müssen aber nutzenorientiert eingesetzt werden und nicht nach dem Prinzip: „rein, was geht“.
VDI: Welche Rolle hat der Vertriebler bei so viel automatisierter Unterstützung?
Dirzus: Er führt das wichtige, persönliche Gespräch, in dem Erwartungshaltungen des Kunden und Wertversprechen des Anbieters noch einmal abgeglichen werden. Außerdem können in diesem Gespräch Spezifika besprochen werden wie beispielsweise Einstellungsvarianten für besondere Einsatzfälle, individuelle Anforderungen an die Software-Integration im Unternehmen oder auch mögliche Zusatzkomponenten.
VDI: Wenn die persönlichen Gespräche von so hoher Bedeutung sind, könnten sich doch auch europäische Unternehmen zusammentun und gemeinsame Vertriebs-Center aufbauen.
Dirzus: Das Problem ist die gestiegene Komplexität der Produkte, insbesondere im B2B-Bereich und ganz besonders in der Automatisierung und Messtechnik. Selbst wenn Sie zehn Vertriebler aus unterschiedlichen Unternehmen in einem Raum zusammenbringen, werden diese nicht zu den „Borg“ der Enterprise. Sie bilden keine Schwarmintelligenz und akkumulieren auch kein Wissen. Aber genau das ist notwendig, um alle Möglichkeiten aller auf einmal zu begreifen und daraus die beste Auswahl für den Kunden zu treffen. Hier kann nur eine Maschine, ausgestattet mit mindestens einfachen Algorithmen, helfen.
Gülpen: Dazu kommt, dass Kunden neuen Angeboten oftmals skeptisch gegenüberstehen. Das gilt auch für viele industrielle Einkäufer, die sich, im Gegensatz zum privaten Konsumenten, in der Regel auch keinen teuren „Fehlkauf“ leisten können. Es gilt also, Vertrauen zu schaffen und Barrieren abzubauen. Dazu gehört auch, schon den Anschein einer möglichen Parteilichkeit zu vermeiden. Aus Sicht des Einkäufers sollte die Empfehlung also auf möglichst objektiven Kriterien beruhen, nicht auf möglichen partiellen Interessen der Anbieter-Unternehmen.
Deshalb wird die persönliche Unterstützung in Zukunft wohl auch weniger ein Job für den „klassischen“ Verkäufer sein. Gefragt sind vielmehr richtig gute Beratungsingenieure, die wissen, wie man latente Kundenbedürfnisse (also Anforderungen, die der Kunde selbst noch nicht wirklich kennt) im Gespräch und unterstützt von einem intelligenten System ermittelt und dem Kunden hilft, das für ihn optimale Produkt- und Dienstleistungsangebot zu finden.
VDI: Wie „schlau“ muss ein solches Unterstützungssystem sein?
Dirzus: Das hängt davon ab, ob Sie ein lernendes System haben möchten, das sich an Kundengruppen oder gar einzelne Nutzer selbstständig anpasst. Ein weiteres Kriterium ist, wie autonom das System erkennen soll, welche Möglichkeiten es auch dem Anbieter geben soll, sein Angebot zu beschreiben und dabei Fehler auszuschließen.
Wie viele und welche Plausibilitätsprüfungen wollen Sie integrieren, damit diese nicht alle schon vorher vom Programmierer ausgeschlossen werden müssen? Je größer, komplexer und anwendungsfreundlicher die Plattform werden soll, umso eher würde ich dazu raten, eine smartere Lösung anzustreben. Eventuelle Fehler können vorher nicht komplett ausgeschlossen werden. Auch Suchanfragen und Optionen können nicht im Voraus allumfassend bedacht werden. Dazu ist unsere Produktionswelt viel zu komplex. Das können Maschinen heute einfach besser.
Gülpen: Wichtig ist, dass ein solches System umfangreich genug „fragt“, um den Kunden bei der Ermittlung seiner Bedürfnisse wirkungsvoll zu unterstützen. Denn der möchte nicht in erster Linie ein bestimmtes Produkt finden, sondern er will ein konkretes Problem lösen. Dafür ist er in der Regel auch besonders zahlungsbereit. Die beste Lösung für dieses Problem muss aber gar nicht unbedingt das Produkt sein, nach dem der Kunde initial gesucht hat. Ein intelligentes System, das das tatsächliche, ungelöste Kundenproblem identifiziert und die beste verfügbare Lösung anbietet, schafft einen echten Mehrwert.
Gleichzeitig darf der Konfigurationsprozess nicht so umfangreich sein, dass der Kunde genervt ist. Sonst bricht er den Prozess ab und es wird sehr schwer sein, ihn für einen weiteren Versuch zu begeistern. Hier die richtige Balance zu finden und umzusetzen, kann entscheidend sein.
VDI: Wie schaffen Sie Vertrauen in eine solche Plattform?
Dirzus: Solange Sie eine solche Plattform anbieterspezifisch aufsetzen, werden Sie kein Vertrauen erzeugen können. Entweder schließen sich Unternehmen – und damit meine ich auch Konkurrenten – in Deutschland, besser noch Europa, zusammen und bilden gemeinsam eine solche Plattform. Oder Sie nehmen von vornherein jemanden, dem die Industrie und die Menschen in einem sehr hohen Maße vertrauen, zum Beispiel den VDI.
Autorin: Dr.-Ing. Dagmar Dirzus
Redaktionelle Bearbeitung: Thomas Kresser
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