Demografischer Wandel: Nachwuchsmangel bei Ingenieuren – was zu tun ist
Sinkende Schülerzahlen und immer mehr ältere Ingenieure, die in Kürze das Rentenalter erreichen – das sorgt dafür, dass der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt weiter steigt. Auch langfristige Trends wie eine steigende Forschungsintensität oder die Digitalisierung erhöhen den Bedarf an Arbeitskräften.
Ob Energiewende, Smarthome oder die Transformation der Autobranche – die Komplexität der technischen Herausforderungen wird steigen. Das führt zu einem wachsenden Bedarf an Ingenieuren und Informatikern, der sich in den kommenden zehn bis 20 Jahren noch erhöhen wird. Für diesen Zeitraum werden jedoch auch sinkende Schülerzahlen prognostiziert. Zeitgleich scheiden in den nächsten zehn Jahren immer mehr ältere Ingenieure aus dem Erwerbsleben aus. Schon jetzt klafft eine Lücke zwischen dem Bedarf und dem Angebot an Ingenieuren. „Diese Lücke nimmt allerdings in geringerem Umfang zu, als beispielsweise bei Informatikern oder MINT-Facharbeitern“, erklärt Prof. Dr. Axel Plünnecke, Leiter des Kompetenzfelds Bildung, Zuwanderung und Innovation am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.
Entlastend für den Arbeitsmarkt haben in den letzten Jahren unter anderem die Aussetzung der Wehrpflicht und die G8-Reform gewirkt. Im Jahr 2011 gab es bei den Studienanfängern der Ingenieurwissenschaften ein Rekordhoch von 116.500 Studierenden. Diese haben in den vergangenen Jahren nach und nach ihren Abschluss gemacht. „Solche Spitzenjahrgänge sorgen dann dafür, dass die Bedarfslücke vorerst nur langsam wächst“, erklärt Plünnecke. Auch ausländische Studierende, die in Deutschland die Ingenieurausbildung absolviert haben und danach im Land geblieben sind, haben stark dazu beigetragen, dass die Lücke nicht zu schnell größer wurde. Da es sich dabei um Sonder- und Einmalfälle handelt, kann von einer Entspannung der Arbeitsmarktlage nicht die Rede sein. Berechnungen haben gezeigt, dass selbst bei einer schwächelnden Wirtschaft im Jahr 2029 etwa 84.000 Ingenieure fehlen. Bei einer boomenden Wirtschaft wären es sogar 390.000. Denn bis 2029 werden knapp 700.000 Ingenieure altersbedingt ausscheiden. Die Babyboomer-Generation verabschiedet sich in den Ruhestand – und es rücken nicht genügend junge Leute nach.
Die Zuwanderungsrate muss steigen
„Wenn diese Sondereffekte von G8-Reform und Wehrpflichtaussetzung auslaufen, brauchen wir eine bessere Förderung inländischer Potenziale und mehr qualifizierte Zuwanderung, um den Bedarf zu decken“, Plünnecke. „Derzeit bleiben etwa 50 Prozent der hier ausgebildeten ausländischen Studierenden in Deutschland.“ Für sie ist die Perspektive gut, die Sprachbarrieren sind für die Ingenieurwissenschaften geringer, als für kultur- und geisteswissenschaftliche Fächer. „Programmiersprachen wie Java und naturwissenschaftliche Gesetze sind weltweit gleich“, sagt der Professor. „Ideal wäre es, wenn nach dem Studium 75 Prozent aller ausländischen Studenten in Deutschland bleiben würden.“ Wichtig sei es auch, die unter ausländischen Ingenieuren entstehenden Netzwerke zu nutzen, um künftig neue Zuwanderer zu gewinnen. Die Hochschulen müssen zudem aktiv um ausländische Studierende werben. Dazu gehört auch, das Studium an allen Interessenten auszurichten, um Fachkräftemangel zu vermeiden und Engpässe auszugleichen. Zumal die Ingenieurwissenschaften in Ländern wie Indien oder Afghanistan einen sehr hohen Stellenwert haben. Sie bieten jungen Menschen die Chance, aufzusteigen und später in globalen Unternehmen arbeiten zu können. „Die Ingenieurwissenschaften sind immer noch das klassische Aufsteigerstudium“, sagt Axel Plünnecke. „Viele Eltern, die in technischen Ausbildungsberufen, beispielsweise als Elektriker arbeiten, animieren ihre Kinder zum Studium. Auch da muss man ansetzen, zumal die Nähe zum Ingenieurberuf in diesen Familien aufgrund der beruflichen Vorbildung größer ist.“
Das Interesse der Jugend an globalen Themen nutzen
Auch Frauen müssen ins Boot geholt werden. „Die Ingenieurwissenschaften müssen zielgruppengenau werben. Berufs- und Studienberatung an Schulen muss klischeefrei sein“, erklärt der Experte. Die Ingenieurwissenschaften böten spannende Themen. „Bei der Beratung muss die Sinnfrage stärker in den Vordergrund gestellt werden als nur technische Themen. Dann erreicht man auch diejenigen, die ihr Studium danach auswählen, was sie später im Leben damit verändern können.“
Dass Jugendliche Interesse an Themen wie Klimaschutz und den entsprechenden Lösungen haben, zeigen derzeit die Demonstrationen unter dem Motto „Fridays for Future“. Dieses Interesse sollte man nutzen: „Wenn wir Klima- und Umweltschutz mit der Wirtschaft in Einklang bringen wollen, ohne einen Wohlstandsverlust zu erleiden, geht das nur mit Innovation und die gibt es nur mit Ingenieuren,“ sagt Prof. Plünnecke.
Bei der Suche nach Ingenieurnachwuchs darf nicht in festen Grenzen gedacht werden. Vor allem aus den USA drängen digitale Unternehmen an den technischen Markt. Sie gehen Kooperationen mit traditionellen Unternehmen ein, um die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Zuletzt beispielsweise Amazon, Siemens und Volkswagen. „Man muss sich heute fragen: Wird es Google machen oder haben wir selbst eine starke Industrie, die Akzente setzt“, sagt der Professor. „Wenn wir die beste KI haben wollen, müssen wir auch die besten KI-Programmierer holen und die Hochschulen entsprechend attraktiv machen.“
Die Studiengänge an die neuen Herausforderungen anpassen
Dafür müssen die Ingenieurstudiengänge teilweise auch modernisiert werden. Für Bauingenieurwesen, Elektrotechnik oder Maschinenbau gibt es weiterhin hohen Bedarf. „Wir brauchen keine neuen Studiengänge, wir müssen das Vorhandene um neue Erkenntnisse ergänzen“, erklärt der Experte. Die Bologna-Reform biete dafür gute Ansätze. Das Grundwissen wird im Bachelor vermittelt, die Vertiefung und Spezialisierung erfolgt beim Master. Auch dabei sind die Universitäten und Fachhochschulen gefragt. Sie bieten gerade bei den Ingenieurwissenschaften eine High-End-Bildung, die kein anderer leisten kann.
Was nicht geschehen darf: eine Kürzung der Studienkapazitäten aufgrund sinkender Nachfrage. Zwar führt die demografische Entwicklung dazu, dass weniger Einwohner auch weniger Produkte benötigen, aber Ingenieure bedienen den Weltmarkt. Dafür reicht ein Blick auf das Thema Gesundheit und Pflege. Letztere wird aufgrund der demografischen Entwicklung zu einer globalen Herausforderung, die dringend neue Lösungen benötigt. „Es wird aus Innovationssicht noch viel kommen, was wir uns heute noch gar nicht vorstellen können“, meint Plünnecke. Immer vorausgesetzt, es gibt genug Ingenieure.
Das Fazit: Der Bedarf an Ingenieuren steigt, Zuwanderung hilft, die jetzigen Kapazitäten müssen erhalten und ausgebaut werden – durch gezielte Anwerbung ausländischer Studierender und eine Ausrichtung der Studiengänge an eine größere Bandbreite von Interessenten.
Autor: Julia Klinkusch
Redaktionelle Bearbeitung: Thomas Kresser