An der Sektorkopplung führt kein Weg vorbei
Die Integration der Sektoren Strom, Wärme, Industrie und Mobilität ist ein wichtiger Baustein für das Gelingen der Energiewende. Die Weichen für die Umsetzung der sogenannten Sektorkopplung muss die Politik stellen, so ein Fazit des vergangenen VDI-Policy Forums.
Was das konkret bedeutet und wie die Politik die Integration ermöglichen will, haben wir die Bundestagsabgeordneten Dr. Ingrid Nestle (Sprecherin für Energiewirtschaft Bündnis90/Die Grünen) und Carsten Müller (CDU/CSU-Fraktion) gefragt. Die Antworten der Politiker kommentiert VDI-Energieexperte Prof. Dr.-Ing. Harald Bradke (Vorsitzender Interdisziplinäres Gremium Klimaschutz und Energiewende im VDI) und ordnet diese in den energiepolitischen Gesamtzusammenhang ein.
Wo sehen Sie Potenziale bei der Integration der Sektoren Strom, Wärme, Industrie und Mobilität? Können Sie ggf. konkrete Beispiele nennen?
Dr. Ingrid Nestle MdB: Die Potenziale sind groß, wenn genügend Strom aus erneuerbaren Energien zur Verfügung steht. Zum Beispiel kann Strom zu Zeiten von Erzeugungsspitzen aus Wind und Sonne über Wärmepumpen in Wärmenetzen oder Einzelhäusern genutzt werden. Die Industrie kann bisher fossil betriebene Prozesse entweder elektrisch oder mit Wasserstoff betreiben. Dieser sollte ebenfalls vorrangig produziert werden, wenn Wind und Sonne liefern. Zugleich können elektrische Industrieprozesse wie bei der Produktion von Alu teilweise zeitlich verschoben werden, sodass sie quasi wie ein Stromspeicher wirken. Im Verkehrsbereich sollte vorrangig Strom direkt genutzt werden, der im Lastverkehr durch Wasserstoff und in der Luftfahrt durch synthetische Kraftfahrstoffe ergänzt wird.
Carsten Müller MdB: Durch eine kluge Verzahnung der Sektoren können wir bedeutende volkswirtschaftliche Potenziale heben und zugleich die Dekarbonisierung entschieden vorantreiben. Ein zentrales Element, das große Pozentiale für die Integration und Kopplung der Sektoren sowie enorme Möglichkeiten der ökologischen und ökonomischen Nutzbarmachung bietet, ist natürlich Wasserstoff. Wasserstoff kann in Zeiten großen Angebots und geringer Nachfrage vor allem an den Küsten erneuerbar produziert und unmittelbar eingesetzt oder als flexibles Speichermedium genutzt werden, kann im Mobilitätssektor als Treibstoff dienen und in energie- und emissionsintensiven Prozessen wie der Stahlherstellung maßgeblich zur Dekarbonisierung beitragen. Wasserstoff verzahnt dabei als wahres Multitalent diverse Sektoren. Zugleich darf Wasserstoff aber auch nicht zum Allheilmittel verklärt werden. Insbesondere im Gebäudebereich darf die Aussicht auf die Nutzung von Wasserstoff, etwa im Bereich der Wärmeversorgung, nicht dazu führen, dass weitere Anstrengungen zur Dekarbonisierung weniger ambitioniert angegangen werden. Dies gilt etwa im Hinblick auf die Energieeffizienz in Gebäuden, wo weiterhin noch große Einsparpotenziale gehoben werden können.
Dr. Ingrid Nestle MdB: Es gilt Verlässlichkeit für die Investoren zu schaffen, indem ausreichend Zubau endlich wieder im EEG verankert wird. Ohne diese gruselige Regel aus der neusten EEG-Novelle, dass bei Knappheit an fertigen Projekten die Ausschreibungsmenge sofort reduziert wird. So ermutigt man niemanden neue Projekte anzufangen. Gerade Bürgerenergieprojekte brauchen mehr Verlässlichkeit. Dafür ist es hilfreich, das EEG - wie in der Vergangenheit höchstrichterlich bestätigt - aus der EU-Beihilfe herauszuhalten, statt mit der Gießkanne Geld ins EEG zu kippen. Ein Beispiel wäre die Finanzierung von Offshore-Projekten aus Steuermitteln. Zudem brauchen wir mehr Rechtssicherheit und teilweise einfachere Regeln bei den Genehmigungsverfahren. So sollte endlich definiert werden, wann ein Tötungsrisiko von einzelnen Großvögeln signifikant erhöht ist. Beim Repowering kann eine Änderungsgenehmigung ausreichen, anstatt kontrafaktisch anzunehmen, da sei eine leere Wiese. Nicht zuletzt gilt es gemeinsam für die Windenergie einzustehen. Viel zu häufig werden auch von Politikern noch Falschaussagen zur Windenergie verbreitet.
Carsten Müller MdB: Mit dem EEG 2021 haben wir im Deutschen Bundestag im Dezember vergangenen Jahres die Ausbauziele für die Erneuerbaren, insbesondere mit Blick auf die Wind- und Solarenergie, deutlich angehoben. Zudem haben wir im Rahmen des Windenergie-auf-See-Gesetzes die Ausbauziele für Offshore Windenergie von 15 auf 20 GW Leistung bis 2030 und auf 40 GW bis 2040 angehoben. Wir sind also schon auf einem sehr guten Weg. Zugleich muss der Netzausbau aber noch ambitionierter vorangetrieben werden und auch bei der Förderung von Speichern müssen wir beherzter agieren. Mit diesem Gesamtpaket wird eine erneuerbare Sektorkopplung möglich.
Welche Änderungen im regulatorischen Rahmen, zum Beispiel bei Steuern, Abgaben und Umlagen sowie in der Finanzierung der EEG-Vergütung, halten Sie für notwendig, um neue Geschäftsmodelle für die Integration der Sektoren zu ermöglichen?
Dr. Ingrid Nestle MdB: Die Abgaben und Entgelte sollten möglichst für alle flexiblen Verbraucher, jedenfalls aber für Anlagen der Sektorkopplung dann reduziert oder erlassen werden, wenn sie keinen Netzausbau auslösen und sich zeitlich nach der Verfügbarkeit von Wind und Sonne ausrichten. Machbar ist das über eine halbdynamische EEG-Umlage, die bei einem niedrigen CO2-Gehalt im Strommix abgeschmolzen wird. Letztlich werden so nur die Preissignale vorweggenommen, die sich bei einem ehrlicheren CO2-Preis in der Zukunft sowieso ergeben werden. Wir könnten also die Investitionssignale für die Technik der Zukunft vorziehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Carsten Müller MdB: Mit der kürzlich von uns beschlossenen EEG-Umlagebefreiung von grünem Wasserstoff haben wir als Koalition eine ganz wichtige Weiche für die Sektorenkopplung gestellt. Ich hielte es zudem für sinnvoll, Abgaben und Umlagen auf den negativen Strompreis zu reduzieren und bei andernfalls abzuregelndem Strom gänzlich zu streichen. Dadurch könnte die Nachfrage nach Strom in Zeiten zu hoher Erzeugung gesteigert und der Strom für die weitere Verwendung in anderen Sektoren zu attraktiven Konditionen nutzbar gemacht werden. Gerne übersehen wird im Bereich der Sektorenkopplung überdies eine ihrer wohl erprobtesten Formen: die Kraft-Wärme-Kopplung. Contracting-Modelle sorgen dabei für eine maximal ökologisch und ökonomisch effiziente Nutzung der KWK. Es ist dringend geboten, jene Energiedienstleistungsmodelle dem Eigenverbrauch gleichzustellen und hier eine reduzierte EEG-Umlage zu gewähren, damit der Integrationstreiber KWK auch mit voller Kraft eingesetzt werden kann. Auf lange Sicht müssen wir natürlich auch ganz grundsätzlich über die EEG-Umlage sprechen.
Statement Prof. Dr.-Ing. Harald Bradke
Die Teilnehmer auf dem virtuellen Podium waren sich weitgehend einig: An der Sektorkopplung führt kein Weg vorbei, wenn wir das 1,5-Grad-Klimaziel erreichen wollen. Wie sonst sollten in allen Sektoren die fossilen Brenn- und Kraftstoffe substituiert werden können, wenn nicht durch treibhausgasneutral erzeugten Strom und gegebenenfalls daraus erzeugte synthetische Gase und Kraftstoffe?
Als Grundvoraussetzung dafür muss zuerst einmal genügend grüner Strom bereitstehen - mehr als heute für Stromanwendungen erzeugt wird - wenn damit direkt oder indirekt alle fossilen Energieträger ersetzt werden sollen. Bis hierher sind sich die Parteien meist einig. Aber wie viel Strom aus Wind und Sonne ist genug? Und mit welchen politischen Instrumenten sind der Ausbau der erneuerbaren Energien und ein sparsamerer Einsatz von Energie erreichbar? Je konkreter es wird, umso eher unterscheiden sich die Ideen der politischen Parteien.
Beispiel Windenergieausbau in Deutschland: Mit dem Wechsel auf ein staatlich gesteuertes Ausschreibungs-Mengensystem ist es auf dem deutschen Windmarkt zu einem starken Einbruch bei der Neuerrichtung von Windkraftanlagen gekommen.
Nach einem bereits schwachen Jahr 2019 ist 2020 mit einem weiteren Rückgang und einem neuen Tiefstwert bei der Windenergie-Zubauleistung seit vielen Jahren zu rechnen. Während sich der Vertreter der Regierungspartei auf den Hinweis beschränkt, dass die Regierung die Ziele weiter erhöht hat und dass natürlich der Ausbau von Netzen und Speichern vorangetrieben werden muss, nennt die Vertreterin der Opposition einige Lösungsvorschläge für eine Überwindung der offensichtlichen Hemmnisse beim Ausbau, bei denen vor allem die Gesetzgebung gefragt ist. Gerade der Windenergieausbau wird durch eine Reihe von Regularien behindert, die dringend überarbeitet werden müssen, um die erforderlichen ambitionierten Ziele auch zu erreichen. Dies ist eine ureigenste Aufgabe der Politik und muss schnellstmöglich angegangen werden.
Interview: Christian Krause, Leiter Büro Berlin