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Bild: Gorodenkoff/ Shutterstock.com

Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs

Orientierung für Ingenieurinnen und Ingenieure

Die „Ethischen Grundsätze“ wollen Ingenieurinnen und Ingenieuren als den Gestaltern der Technik Orientierung bieten und sie bei der Beurteilung von Verantwortungskonflikten unterstützen. Der VDI bietet diese Orientierung allen Ingenieurinnen und Ingenieuren an. Die „Ethischen Grundsätze des Ingenieurberufs“ sind daher nicht auf die Mitglieder des Vereins beschränkt.

Hier können Sie die „Ethischen Grundsätze“ herunterladen.

Worum geht es bei den Ethischen Grundsätzen?

Die bereits 2002 erstmals veröffentlichten und jetzt vollkommen überarbeiteten Grundsätze wollen eine Antwort auf die Frage geben, was ethische Ingenieurverantwortung bedeutet. Das Grundsatzpapier stellt diese in drei Kapiteln vor:

  1. Verantwortung:
    Welche Verantwortung haben Ingenieurinnen und Ingenieure?
  2. Orientierung:
    Woran können sie sich bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung orientieren?
  3. Umsetzung in die Praxis:
    Wie können sie diese in die Praxis umsetzen?

Allerdings wollen die „Ethischen Grundsätze für den Ingenieurberuf“ nicht eine Orientierung vorgeben, sondern Ingenieurinnen und Ingenieure beim Sich-Orientieren unterstützen. Sie bieten eine „Landkarte“ der Problemlagen und Aufgaben sowie einen „Kompass“, der einschlägige Werte vorstellt. Dabei adressieren sie Ingenieurinnen und Ingenieure in ihrer Rolle, die ihnen als Expertinnen und Experten zukommt – eine spezifische Verantwortung, die die allgemeine moralische Verantwortung und die Verantwortung jedes Bürgers im Umgang mit Technik überschreitet und besondere Aufgaben mit sich bringt. Die Grundsätze schreiben nicht die „Reiseziele“ vor; vielmehr profilieren sie die Rolle der Ingenieure im gesellschaftlichen Dialog, in dem solche Ziele ausgehandelt werden.

Die Grundsätze betonen die Rolle der Ingenieurinnen und Ingenieure nicht bloß bei der Entwicklung technisch optimaler Lösungen (das ist selbstverständlich), sondern auch und gerade in der Formulierung von Problemstellungen, der Erschließung von Suchräumen und der Mitgestaltung von technischen Strategien sowie entsprechenden Infrastrukturen.

Prof. Dr. phil. Christoph Hubig, Ehrenmitglied im VDI und Experte Ingenieurverantwortung

VDI-Podcast Technik aufs Ohr

Interview mit Prof. Dr. phil. Christoph Hubig

Prof. Hubig, die „Ethischen Grundsätze“ sollen Ingenieurinnen und Ingenieuren eine Art Kompass und Unterstützung bei der Orientierung darstellen. Können Sie Beispiele aus der Praxis nennen, wann diese Orientierung notwendig werden kann?

Mit Blick auf die Profilierung, die in der jetzt verabschiedeten Überarbeitung der Ethischen Grundsätze von 2002 vorgenommen wurden, wären spontan zwei Beispiele zu nennen. Die Profilierung sollte ja die beiden großen aktuellen Herausforderungen „nachhaltige Entwicklung“ und „digitale Transformation/Künstliche Intelligenz“ stärker gewichten und einschlägige Signale setzen: Angesichts des Klimawandels sind neue Formen der Ressourcennutzung vordringlich, für die sich z.B. im Bereich der Antriebstechniken ein weites Spektrum eröffnet. So standen auf dem Deutschen Ingenieurtag 2021 aus guten Gründen die Entwicklungspotenziale der Wasserstofftechnologie im Fokus, und die Analysen, Sondierungen und Visionen, die die Verhandlungen und Diskussionen prägten, führten die Perspektiven aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zusammen - auch und gerade in kritischer Bilanzierung vergleichbarer, wenn auch bereits weiter entwickelter alternativer Technologien.

Und angesichts eines zunehmenden Einsatzes künstlicher Intelligenz/autonomer Systeme in allen Branchen stellt sich die Frage, wie unter den in den Grundsätzen aufgeführten  anerkannten Werten Transparenz, Rechenschaftspflicht, Erklärbarkeit, Zuverlässigkeit, Datenschutz, Funktionssicherheit, Informationssicherheit, Chancengerechtigkeit - die durchaus interne Spannungsverhältnisse aufweisen - Regelwerke für die Entwicklung und die Zertifizierung der Systeme sowie die Regulierung ihres Einsatzes in ethisch sensiblen Kontexten erarbeitet werden können. 

Und welche Bedeutung kommt den „Ethischen Grundsätzen“ im Ingenieurberuf zu?

Die Grundsätze betonen die Rolle der Ingenieurinnen und Ingenieure nicht bloß bei der Entwicklung technisch optimaler Lösungen (das ist selbstverständlich), sondern auch und gerade in der Formulierung von Problemstellungen, der Erschließung von Suchräumen und der Mitgestaltung von technischen Strategien sowie entsprechenden Infrastrukturen. So sind z.B. auf dem Weg zu einer „Smart City“ mit integrierten Verkehrssystemen, intelligentem Lastmanagement, optimaler Kommunikation etc. resiliente Strukturen zu schaffen, die intern den Ansprüchen der Nutzerinnen und Nutzer (z.B. privacy), der Anbieter, der Administration und weiteren Beteiligten im Sinne einer gerechten Lastenverteilung entsprechen und gegenüber externen Störungen robust sind. Dies erfordert gesellschaftliche Dialoge, innerhalb derer Ingenieurinnen und Ingenieure ihre Verantwortung im Dienst technologischer Aufklärung wahrnehmen müssen (wer sonst?) und sich dabei auch in einschlägigen Verbänden, in politischen Kontexten, im Bildungsbereich etc. engagieren.

Wenn sich Ingenieurinnen und Ingenieure individuell in ethischer Absicht engagieren, stehen sie in vielen Fällen unmittelbar in Loyalitätskonflikten: Was plakativ in dem vor der Challenger-Katastrophe (dokumentierten) Gespräch angesichts der Einwände des leitenden Sicherheitsingenieurs zur Rede kam: “Nimm‘ Deinen Ingenieurshut ab und setze Deinen Management-Hut auf“ findet sich in vielen vergleichbaren Kontexten. Prominentestes Beispiel ist aktuell der Betrug bei den Emissionsmessungen von Dieselfahrzeugen, die bis zum Faktor 7 über den Grenzwerten lagen. Angesichts der Schäden an Gesundheit und Menschenleben fielen dabei allein für VW bisher Strafzahlungen und Schadensersatzforderungen nach Medienangaben über 30 Milliarden Euro an.

Wie verhält es sich denn mit Loyalitätskonflikten, in die Ingenieurinnen und Ingenieure als abhängig Beschäftigte geraten, wenn sie in ihrer konkreten Arbeit mit ethisch problematischen Fällen konfrontiert sind?

Im Rahmen einer problematischen Führungskultur bleiben den betroffenen Ingenieurinnen und Ingenieuren, alleingelassen, nur missliche Handlungsoptionen. Hier ist ein Ingenieurverband gefordert, der in der konkreten Situation beratend (oder Beratung vermittelnd) unterstützt und darüber hinaus als Verband darauf hinwirkt, dass in entsprechend gestalteten Unternehmenskulturen die Wahrnehmung spezifischer Ingenieurverantwortung in ethischer Absicht überhaupt möglich wird bzw. die Ingenieurinnen und Ingenieure nicht diese Rolle aufgeben müssen.

Die „Ethischen Grundsätze“ existieren ja schon länger, sind aber jetzt überarbeitet worden. Welche Entwicklung hat die Überarbeitung der Grundsätze aus dem Jahr 2002 notwendig gemacht?

n allen Bereichen der Technikentwicklung, ihrer Vermarktung sowie der Techniknutzung spielt die Digitalisierung inzwischen eine maßgebliche Rolle. Insbesondere die Verbindung von Big Data und Künstlicher Intelligenz führt zu autonomen Systemen, die im operativen Bereich (z.B. Fahrassistenzsysteme, Assistenzsysteme für das Lastmanagement in der Energiebereitstellung, der Qualitätskontrolle in der Produktion, für die Schichtplanung/Teameinteilung…) oder im strategischen Bereich (z.B. Planungsprozesse in der Produktion, Verkehrsplanung, Logistik, Krisenprävention…) eigenständig entscheiden, sofern ihnen diese Entscheidungskompetenz überantwortet wird. Im Zuge maschinellen Lernens werden dabei wesentliche Phasen der Systemprozesse nicht mehr im Einzelnen kontrollierbar („black boxes“). Gleichwohl verbleibt die Gestaltung der Sensorik, der Einsatz von Lernstrategien sowie die Systemarchitektur unter obersten Zielen in der Verantwortung der Entwicklerinnen und Entwickler, die die jeweiligen Gestaltungsoptionen für die Betroffenen transparent halten und die Zielsetzungen entsprechend abgleichen müssen. Eine hierbei maßgebliche moralische Verantwortung kann nicht an die Systeme delegiert werden, mehr noch: Es ist darauf zu achten, dass eine solche moralische Verantwortung menschlicher Subjekte angesichts der Selbsttätigkeit der Systeme gewahrt bleibt. Dies sollte in der neuen Fassung der Grundsätze herausgestellt werden.

Welche besondere Rolle spielen Ingenieure in der aktuellen Diskussion über Moral und Ethik?

Selbstverständlich müssen Ingenieurinnen und Ingenieure nicht erst an ihre allgemein-moralische Verantwortung erinnert werden. In ihrer Expertenrolle sind sie aber an der Schärfung und Profilierung moralischer Fragen angesichts der neuen Problemlagen dringend zu beteiligen bzw. müssen sich entsprechend engagieren. Auch die ethischen Diskussionen, die sich mit Prinzipien einer Rechtfertigung moralischer Einstellungen und Werthaltungen befassen und im Wesentlichen auf philosophischer, theologischer oder juristischer Ebene geführt werden, benötigen eine „Bodenhaftung“ und die Erfahrungen aus der Praxis, wie sie aus der Ingenieurtätigkeit resultieren. Daher verpflichten sich in den Grundsätzen Ingenieurinnen und Ingenieure zur Beteiligung an entsprechenden Dialogen (ein einschlägiges Beispiel hierfür sind die in den VDI-Richtlinien 7000 und 7001 modellierten Verfahren zur Kommunikation und Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturprojekten).

Und welche Rolle spielt der VDI im Kontext der Ethischen Grundsätze?

In den Grundsätzen formuliert der VDI sein Selbstverständnis als Stimme der Wissenschaft und der Technik angesichts der neuen Herausforderungen. Angesichts der zahlreichen Guidelines, Manifeste und Chartas pointiert er seine Auffassung zur Rolle, die Ingenieurinnen und Ingenieure in diesem Konzert spielen können und sollen. Darüber hinaus fördert er als Organisation Maßnahmen zur Aufklärung und Beratung auf entsprechenden Foren sowie im Zuge von Dialogverfahren zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zur Gestaltung und Nutzung von Technik. Er setzt Standards für die Umsetzung der in diesem Grundsatzpapier aufgeführten Orientierungen (u. A. im Rahmen der Richtlinien), unterstützt die mit Wertkonflikten befassten durch die Vermittlung einschlägiger Beratung, wirkte und wirkt in Denkschriften und programmatischen Forderungen darauf hin, dass Kenntnisse über die Verfasstheit von Wertkonflikten sowie Strategien eines Umgangs mit den Problemlagen in die Lehre und entsprechende Curricula aufgenommen werden, z.B. in Form von Modulen „Technik und Gesellschaft“, „Ingenieurverantwortung“, „Technikethik“, wie sie sich inzwischen zunehmend an der Technischen Universitäten(-hochschulen) finden. Ferner bietet er als Institution Ingenieurinnen und Ingenieuren, die sich mit Wertkonflikten auseinandersetzen müssen, Unterstützung an.

Künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Klimawandel – wie können die Ethischen Grundsätze die aktuellen Veränderungen und Diskussionen positiv beeinflussen und mitgestalten?

Aus den Grundsätzen wird ersichtlich, dass die Entwicklungen und Herausforderungen uns nicht bloß mit Grenzen konfrontieren, denen eine Ethik als „Verbotsethik“ zu begegnen hätte. Vielmehr wird betont, dass hier eine Gestaltungsaufgabe vorliegt, die als Chance zu begreifen ist. Hierbei sind Ingenieurinnen und Ingenieure gefordert, sowohl in ihrem engeren Berufsfeld als auch in den weiteren sozialen Kontexten, die oftmals von Wortführern geprägt sind, deren technische Kompetenz zu wünschen übriglässt. Wenn sich Ingenieurinnen und Ingenieure zu Recht über politische Naivität oder Ignoranz (oder etwa laienhaftes Agieren im Rahmen diverser Initiativen) mokieren, wird dieses Argument zum Bumerang, sofern nicht dem Bedarf an faktenbasierten Dialogen durch ein entsprechendes Engagement von Ingenieur*innen entsprochen wird. Genau dies schreibt sich der VDI in sein Zielbild. In den Grundsätzen finden sich (insbes. im Kap. 3 „Umsetzung“) Anregungen und Festlegungen, diesem Defizit zu begegnen.

Vita Professor Hubig

Christoph Hubig, geb. 1952, war nach Professuren für Praktische Philosophie, Technikphilosophie und Wissenschaftstheorie in Berlin, Karlsruhe, Leipzig und Stuttgart zuletzt an der TU Darmstadt tätig und ist inzwischen emeritiert. Neben kontinuierlicher interdisziplinärer Tätigkeit in zahlreichen Verbundprojekten mit Technikwissenschaften (u. a. Funkkolleg „Technik“, EXC 310 „Simulation Technology“) war und ist er im VDI in zahlreichen Gremien und Ausschüssen engagiert, u. a. VDI 3780 „Technikbewertung“, „Technik im Dialog“ oder VDI 7000/7001 „Kommunikation und Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten“. Er wurde u.a. mit der Ehrenplakette des VDI ausgezeichnet und 2021 auf dem Deutschen Ingenieurtag zum Ehrenmitglied des VDI ernannt.

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